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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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bis er sagte:«Also dann», und sie:«Ja, gute Reise.»Er war als letzter an Bord gegangen.
    Im Flugzeug hatte er sich Mühe gegeben mit sich selbst. Er sagte sich, daß dies zwar der gefürchtete Anreisetag war, aber immerhin noch ein Tag, der ihm allein gehörte und aus dem er etwas für sich machen konnte. Auf dem freien Platz neben sich legte er die russische Grammatik zurecht. Dann wartete er auf die magische Wirkung des Starts – darauf, daß im Augenblick des Abhebens alles in Fluß geriete und leichter erschiene. An einem solchen Tag war man schnell in den Wolken, es gab bange Momente trotz Erfahrung, und plötzlich dann tauchte man auf, in einen tiefblauen, transparenten Himmel hinein, einen Dom aus reinem Ultramarin, unter einem das blendend helle Wolkenmeer mit seiner widerstandslosen Kompaktheit, aus dem vereinzelte Formationen herausragten, kleine weiße Gebirge mit gestochen scharfen Rändern, die in ihm den Eindruck vollkommener Stille hervorzurufen pflegten. Ich bin entkommen, dachte er dann regelmäßig und genoß das Gefühl, daß alles, was ihn eben noch umklammert gehalten hatte, seine Macht verlor und lautlos hinter ihm versank, ohne daß er etwas dazu hätte tun müssen. Gestern jedoch war all dies ausgeblieben, das Ganze kam ihm matt und langweilig vor, Fortbewegung mit dröhnenden Motoren, weiter nichts. Zwar war es draußen wie immer; aber er fühlte sich wie in einem Werbefilm der Fluggesellschaft, tausendfach gezeigt und ohne Echtheit, ohne Gegenwart. Er zog den Schieber über das Fenster, verzichtete auf das Essen und versuchte, sich in die Grammatik zu vergraben. Doch seine gewohnte Konzentration ließ ihn im Stich. Er starrte die Kästchen und Übungssätze stets von neuem an, aber es griff einfach nicht. Als die Maschine dann zum Sinkflug ansetzte, wurde er durch den sanften Wechsel im Motorengeräusch und im Körpergefühl heftiger aufgeschreckt als durch den Knall einer Explosion. Jetzt war es soweit. Es überfiel ihn eine Empfindung des Unwiderruflichen, Unumkehrbaren. Als beim Aussteigen jemand aus Versehen gegen ihn stieß, mußte er eine Weile die Augen schließen und sich festhalten, bevor es ihm gelang, ruhig weiterzugehen.
    In Genua hatte flaches, totes Wetter geherrscht. Graue, schmutzig wirkende Wolkenbänke ließen nur ein mattes, nichtssagendes Licht durchscheinen. Die Dinge waren in aufdringlicher Weise einfach nur sie selbst, sie hatten keine Bedeutung und keinen Glanz. Die Industrieanlagen, an denen der Flughafenbus entlangfuhr, waren häßlich, es schien keine einzige intakte Fensterscheibe zu geben, und er fragte sich, wie es auf einem derart verwahrlosten Gelände überhaupt zu dem vielen Rauch kommen konnte, dessen grelles Weiß an Gift denken ließ. Die wenigen Menschen im Bahnhof, so kam es ihm vor, bewegten sich träge in einer fremden Zeit, die mit beklemmender Langsamkeit floß. Die rauchenden Angestellten am Fahrkartenschalter machten keine Anstalten, ihn zu bedienen. Selbst dem Taxifahrer schien nicht viel am Geschäft zu liegen. Erst nachdem er den Schwatz mit dem Kollegen beendet hatte, ließ er sich herbei zu fragen, welchen Weg er nehmen solle.«Den kürzesten», hatte Perlmann wütend gesagt.
    Bevor es soweit war, daß das Flugzeug für den Rückflug abhob, mußten vier Wochen, fünf Tage und dreieinhalb Stunden vergehen. Perlmann starrte auf die rötlichen Steinplatten der Hotelterrasse. Das war wie ein riesiges Gebirge aus gegenwartsloser Zeit, das sich in dem Maße höher türmte, als sein Wunsch, es möge doch schon soweit sein, brennender wurde. Es war, als sei der Wunsch mit dem Gebirge auf geheimnisvolle Weise verbunden und besitze die magische Fähigkeit, es höherzuschichten. Und da der Wunsch jedesmal, wenn er ihn klar vor Augen hatte, noch heftiger wurde und insgesamt ins Unendliche zu wachsen drohte, hatte Perlmann den Eindruck, jener ersehnte Moment werde niemals kommen, weil es keine Möglichkeit gab, all die tote Zeit zu übersteigen, die vor ihm aufragte wie eine bedrohliche Wand. Der einzige Ausweg bestünde darin, den Wunsch zum Schweigen zu bringen und innen still zu werden. Dann trüge sich das Gebirge von selbst ab, und wenn die innere Stille vollkommen wäre, erschiene die Zeit wie eine Ebene, über die er mühelos zu jenem fernen Moment gelangen könnte.
    Er wollte sich endlich die verschiedenen Ausdrücke einprägen, die es im Russischen für das deutsche müssen gab. Er ging die Liste durch und vergaß jede Zeile sofort wieder.

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