Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
war schon lange auf dem Sprung und fing sofort an zu reden. Hätte er Millar, der immerhin fünfzehn Jahre jünger war als er, mit seinem entschuldigenden Lächeln nicht derart hofiert – Perlmann hätte ihn bewundert. Seine Fragen und Einwände trafen genau ins Schwarze, und Perlmann hätte sich gerne gesagt, daß sie ihm selbst auch schon durch den Kopf gegangen seien. Aber so war es nicht. Um darauf zu kommen, muß man ganz drin sein – so, wie ich nicht mehr drin bin. Er spürte einen Stich des Neids, wie er ihn früher, als ehrgeiziger Student, oft empfunden hatte, wenn ein anderer schneller war mit dem Formulieren von Gedanken, die er sich selbst auch zugetraut hätte; und einen Moment lang ärgerte er sich mit der früheren Heftigkeit über sich selbst. Doch dann geschah etwas Sonderbares: Mit einemmal erlebte er diese Empfindungen als nicht mehr zu ihm, zu seiner Gegenwart gehörig; es waren nur noch Reminiszenzen, überholte Gefühlsreflexe aus einer Zeit, als ihm die Wissenschaft noch nicht fremd geworden war. Es verblüffte ihn zu spüren, wie sehr er sich selbst überlebt hatte, und für eine Weile, während der es um ihn herum ganz still wurde, empfand er das als eine große Befreiung. Doch dann erreichten ihn die Stimmen der anderen wieder, und es kam ihm mit Schrecken zu Bewußtsein, wie weit ihn diese innere Entwicklung von ihnen entfernt hatte und wie bedrohlich das war, besonders in diesem Raum, vor dem er sich seit seiner Ankunft fürchtete.
Bevor von neuem die Erwartung entstehen konnte, daß Perlmann sich äußere, griff Achim Ruge in die Diskussion ein. Der Kontrast zu von Levetzovs übertrieben verbindlicher Art hätte schärfer nicht sein können. Als Kritisierender hatte Ruge etwas Ruppiges, Polterndes, und wenn er einen Einwand mit seinem glucksenden Lachen begleitete, klang es beinahe höhnisch. Er behandelte den gleichaltrigen Millar wie alle anderen auch, nicht ohne Respekt, aber gänzlich unbeflissen, und er war durch absolut nichts einzuschüchtern. Als Millar auf einen Einwand hin mit einer gewissen Schärfe sagte: «Frankly, Achim, I just don’t see that», gab Ruge mit einem Grinsen zurück: «Yes, I know», und erntete damit Gelächter, das Millar mit einem säuerlichen Lächeln, das sportlich wirken sollte, über sich ergehen ließ.
Aber es war eigenartig, dachte Perlmann: Von Ruge kommend hatte all das nichts Verletzendes. Man konnte dem Mann mit dem kahlen Kopf und der schauderhaften schwäbischen Aussprache seinen Stil einfach nicht übelnehmen, denn durch alles Polternde hindurch war seine Gutmütigkeit erkennbar, man spürte, daß seiner Angriffslust jede Spur von Tücke fehlte. Jetzt, wo er seinem lauten Schneuzen entflohen war und er sich nicht mehr würde vorstellen müssen, wie er ihm jenseits der Wand gegenübersaß, konnte Perlmann diesen Achim Ruge gelten lassen. Und eigentlich war es absurd anzunehmen, seine Biederkeit und Rechtschaffenheit machten ihn gefährlich.
Laura Sand hatte den Stift hingelegt und wollte etwas sagen. Als sie jedoch sah, daß aller Augen auf Perlmann gerichtet waren, lehnte sie sich zurück und griff nach einer Zigarette. Perlmann blickte zu Silvestri hinüber; doch statt bei ihm Halt zu finden, prallte sein Blick an der gespannten Erwartung ab, die in den dunkel glitzernden Augen lag. Es gab kein Entrinnen mehr. Es war soweit.
Es waren einwandfreie Sätze, die aus seinem Munde kamen, und ihr schleppendes Tempo unterschied sich nur unwesentlich vom natürlichen Ausdruck der Nachdenklichkeit. Doch in Perlmanns Kopf dröhnten sie als dumpfe, sinnleere Lautfolgen, die von irgendwoher kamen und als etwas Fremdes durch ihn hindurch rieselten, nicht unähnlich den leisen Erschütterungen während einer Bahnfahrt. Diese Wahrnehmung drohte ihn vor jeder nächsten Silbe zum Schweigen zu bringen, so daß er sich innerlich stets von neuem einen Ruck geben mußte, um zum nächsten Satz zu gelangen – um sozusagen das hier gebotene Minimum an Sätzen zu erzeugen. Und dann auf einmal wurde der innere Druck zu groß, und es erfolgte eine stille Explosion, die ihm den Mut eines Hasardeurs gab.
«Ihre Kritik an meinen Arbeiten ist das Erhellendste, das Einsichtsvollste, was ich seit sehr langer Zeit gelesen habe», hörte er sich sagen.«Ich finde Ihre Einwände restlos überzeugend und denke, daß mein gesamter Vorschlag damit widerlegt ist. »Er verfiel in ein Lachen, das innerlich von einem fiebrigen Schwindel umrahmt war.«Es ist eine fabelhafte
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