Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Freitreppe stand und zum Namen des Hotels hinaufsah, der in weißen Leuchtbuchstaben auf blau schimmerndem Grund geschrieben stand, schob sich über alles andere das schlechte Gewissen, einen halben Tag vertrödelt zu haben.
Die beiden Texte von Millar, die ihm Signora Morelli überreichte, waren ein Schock. Der eine, den er zu Hause in den Schrank für die Sonderdrucke gestopft hatte, war neunundfünfzig Seiten lang, der andere fünfundsechzig, dazu sieben Seiten Anmerkungen. Als er im Lift darin blätterte, verschwand auch noch der letzte Rest der Befreiung, die er in der Trattoria erlebt hatte. Übrig blieb eine bleierne Müdigkeit und der Eindruck, er würde Stunden brauchen, um auch nur eine einzige Seite zu lesen.
Im Zimmer dann legte er die Texte beiseite. Vor dem Abendessen blieb dafür nicht mehr genügend Zeit. Er griff zu Leskovs Text und trug die unbekannten Wörter, die er bisher nachgeschlagen hatte, ins Vokabelheft ein. Mehrmals hielt er inne und betrachtete verwundert und glücklich seine russische Handschrift. Sie war etwas ungelenk, aber korrekt, und es war unzweifelhaft Russisch. Ärgerlich war, daß in den nun folgenden Sätzen Wörter vorkamen, die nicht in seinem Taschenwörterbuch standen. Trotzdem vermochte er Leskovs nächstem Schritt im großen und ganzen zu folgen. Selbstbilder, so argumentierte der Text, seien noch etwas ganz anderes als die erlebten Konturen einer Innenwelt. Sich ein Bild von sich selbst zu machen, das sei ein Prozeß, der viel mehr Artikulation verlange, als die innere Wahrnehmung, das innere Ertasten von Erlebniskonturen, für sich allein zu liefern vermöge.
Er hatte eine Nase für schlagende Beispiele, dieser Vasilij Leskov, und allmählich entwickelte Perlmann ein Gefühl für den Text. Er mochte seine knappe, schnörkellose Art und seinen lakonischen Tonfall. Als Autor, dachte er, war Leskov ganz anders, viel sympathischer als sonst, und Perlmann merkte, wie die unförmige, pfeifenrauchende Gestalt aus seiner Erinnerung hinter eine andere Person zurücktrat, die zwar kein Aussehen hatte, aber eine Stimme, und damit eine klare, eindringliche Identität.
Es war zwanzig vor neun, als ihm das Abendessen einfiel. Hastig zog er sich um, erwischte das Hemd mit dem abgerissenen Knopf und wählte eine breite Krawatte, um die Stelle zu verdecken. Giovanni hinter der Empfangstheke grinste, als er ihn gehetzt die Treppe herunterkommen sah. Es war das Grinsen von jemandem, der einen zu spät kommenden Schüler über den leeren Flur zum Klassenzimmer hetzen sieht. Perlmann hätte ihn am liebsten geohrfeigt, diesen unbedarften Italiener mit den buschigen Brauen und den zu langen Koteletten. Der Blick, den er ihm zuwarf, war so giftig, daß das Grinsen auf seinem Gesicht augenblicklich erlosch.
Er wolle keine Vorspeise, sagte er dem Kellner, bevor er sich neben Silvestri setzte, der, offenbar in einen hitzigen Wortwechsel mit Brian Millar verwickelt, Messer und Gabel gekreuzt auf den Teller gelegt und mitten im Essen eine Zigarette angezündet hatte. Ja, sagte er gerade und blies Millar den Rauch wie unabsichtlich ins Gesicht, das Experiment von Franco Basaglia in Görz müsse man wohl als gescheitert bezeichnen. Aber das sei noch lange kein Beweis, daß die herkömmliche Psychiatrie der Gitter und der verriegelten Türen nicht verändert werden könne; und ein hämischer Ton sei schon überhaupt nicht angebracht. Jedenfalls habe Basaglia mehr Sensibilität, Engagement und Mut bewiesen als die gesamte etablierte Psychiatrie, deren Trägheit direkt proportional zu ihrer Phantasielosigkeit sei.
«Haben Sie schon einmal erlebt, wie es ist, wenn man Ihnen, obwohl Sie gar nichts getan haben, die Tür vor der Nase verriegelt wie in einem Gefängnis? Haben Sie die großen Schlüssel gesehen, die von den Wärtern mit einem Geräusch im Schloß umgedreht werden, dessen Nachklang überhaupt nie aufzuhören scheint?»Silvestris weiße Hand mit der Zigarette zitterte, und es fiel ein Stück Asche auf die Roulade.
«Es sind nicht Wärter», sagte Millar mit mühsamer Selbstbeherrschung,«es sind Pfleger.»
«In Oakland wurden sie als warden bezeichnet», sagte Silvestri gepreßt,«dasselbe Wort wie bei euch im Gefängnis. »
«Es sind Pfleger», wiederholte Millar mit erzwungener Ruhe und wandte sich dann, die Weinflasche in der Hand, mit einem forcierten Lächeln an Perlmann.«Es gibt erfreulichere Themen. Wie hat Ihnen mein neuer Text gefallen?»
Perlmann spürte, wie Silvestris
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