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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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er auch nach dem zweiten und dritten Lesen noch. Er versuchte, die ganze Passage einfach sein zu lassen und hinten weiterzumachen. Aber das ging nicht, der Absatz enthielt allem Anschein nach ein Argument, das der Schlüssel für alles weitere war, und wenn man es nicht verstanden hatte, erschien das, was folgte, unbegründet, beinahe willkürlich. Am liebsten hätte er den Text in die Ecke geschleudert. Doch dann fand er sich damit ab, daß er, was dieses Textstück anging, wieder ganz der Schüler war und nicht ein des Russischen mächtiger Leser, und er fing an, die einzelnen Sätze zu sezieren wie in der Lateinstunde.
    Langsam, Halbsatz für Halbsatz, gab der Text nach und offenbarte seinen Sinn. An der entscheidenden Stelle des Arguments jedoch gab es einen Block von vier Sätzen, die aller analytischen Anstrengung und Geduld zum Trotz undurchdringlich blieben. Was Perlmann fast zur Verzweiflung trieb, war, daß es nicht daran lag, daß die Wörter in seinem Wörterbuch fehlten. Bei zwei Wörtern war das zwar der Fall, aber das waren Adjektive, die ihm vernachlässigbar erschienen. Alle anderen unbekannten Wörter fanden sich durchaus im Langenscheidt, aber den Sätzen ließ sich mit Hilfe dieser Erläuterungen beim besten Willen kein Sinn abringen, ganz zu schweigen von einem schlüssigen Zusammenhang. Entgegen aller Erfahrung tat Perlmann, als ließe es sich dennoch erzwingen, er ging auf und ab und sagte die vier Sätze, die er längst auswendig kannte, immer wieder halblaut vor sich hin, beschwörend und dabei gestikulierend, man hätte ihn für einen Irren halten können. Er hielt erst inne, als es an der Tür klopfte.
    Hastig schob er Leskovs Text zusammen und verstaute ihn mit dem Wörterbuch in der Schublade des Schreibtischs, bevor er die Tür öffnete, die sich mit einem Knall in der Kette verfing.
    «Oh, ich störe dich», sagte Evelyn Mistral, als sie sein Gesicht im Spalt sah.
    «Nein, nein, warte», sagte Perlmann schnell und schloß die Tür, um die Kette loszumachen.
    Sie hatte seine neue Zimmernummer nach vergeblichem Anrufen und Klopfen von Signora Morelli erfahren. Jetzt ließ sie, die Hände in den Taschen ihrer rostroten Jeans, den Blick durch das ganze Zimmer wandern und stürzte sich dann auf den Ohrensessel, in dem sie förmlich versank.
    Das Bett sei der Grund für den Wechsel gewesen, sagte Perlmann, er habe das übliche Problem mit dem Rücken.
    «Und du bist gern für dich», sagte sie mit einem leisen Zucken um die Mundwinkel und sank mit übereinandergeschlagenen Beinen noch ein bißchen tiefer in den Sessel.
    Perlmann wußte nicht, ob er über ihre Treffsicherheit erschrak, oder ob es Freude war.
    «Weißt du», sagte sie, nachdem sie ihn um eine Zigarette gebeten hatte, die sie dann bloß paffte,«ich habe einen Blick dafür. Mein Vater litt nämlich sein Leben lang unter einer streng geheimgehaltenen Platzangst. Im Kino zum Beispiel setzte er sich stets auf den äußersten Sitz einer leeren Reihe, auch wenn er nachher laufend aufstehen mußte, um die Leute vorbeizulassen, und nicht selten verschwand er durch den Notausgang, wenn sich der Saal zu sehr füllte. Drängten sich die Leute auf dem Gehsteig, so war er imstande und ging mitten in den Verkehr hinaus. Und natürlich mied er Aufzüge wie die Pest; eine Ausnahme machte er nur bei den alten, wo man durch die Glastüren und den Drahtschacht hinaus ins Treppenhaus blicken kann. Das Schlimme war, daß er beim Operieren immer die anderen Ärzte und die Schwestern um sich herum hatte. Mehr als einmal war er kurz davor aufzuhören. Doch das ganze Ausmaß seines Problems habe ich erst begriffen, als ich ihn eines Nachts in unserer riesigen Küche fand, wo er wie ein Häufchen Elend vor einem Schnaps saß, den er sonst nie trank. Ein sehr guter Freund, vielleicht überhaupt sein bester, mit dem er mindestens einmal die Woche telefonierte und der damals, als meine Mutter schwer erkrankte, eine große Stütze für ihn war, hatte angekündigt, er werde von Sevilla nach Salamanca ziehen, wo wir unser Haus hatten.