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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Erfahrung, von einer falschen Idee befreit zu werden. Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken! Und eigentlich finde ich, daß Ihre Kritik noch viel weiter trägt, als Sie annehmen. »
    Und nun zauberte er, plötzlich im Vollbesitz seiner Kräfte, ein Argument nach dem anderen aus dem Hut, drosch auf alles ein, wofür sein Name stand, und ruhte nicht, bevor auch noch die letzte Idee, die er irgend einmal beigesteuert hatte, abgeräumt war. Er redete aus einer spielerischen Inspiration heraus, deren Bitterkeit nur er selbst schmeckte, und begleitete seine rhetorischen Ausfallschritte mit einer Armbewegung, die, ähnlich der Bewegung eines Sämanns, etwas Wegwerfendes und gleichzeitig Großzügiges hatte.
    Millar war konsterniert, und auch die anderen sahen aus, als seien sie durch eine Tür getreten und dahinter unversehens ins Leere gefallen. Der erste, der sich fing, war von Levetzov.
    «Bemerkenswert», sagte er, und es war zu spüren, daß ihm seine gewohnte innere Einstellung zu Perlmann auf einmal nicht mehr passend erschien, ohne daß er Zeit gehabt hätte, eine neue aufzubauen.«Aber meinen Sie nicht, daß Sie ein bißchen übers Ziel hinausschießen?»
    Und dann fing er an, die Scherben aufzusammeln und zusammenzukitten, bis daß ein großer Teil von Perlmanns bisheriger Position wieder intakt war. Evelyn Mistral half mit, und plötzlich schien es auch Ruge vor allem darum zu gehen, Perlmann der übereilten Schlüsse zu überführen. Alle schienen erleichtert, daß sich nach und nach wieder eine Diskussion der gewohnten Art entwickelte. Nur ab und zu noch spürte Perlmann, wie ein verstohlener Blick ihn streifte.
    Millar hatte seine Erstarrung abgeschüttelt und redete über Perlmann fast wie über einen Abwesenden. Er hatte keinen Beleg dafür, aber Perlmann hätte schwören können, daß er seine Äußerungen von vorhin für besonders tollkühnen Sarkasmus hielt und sich auf den Arm genommen fühlte. Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Und trotzdem: Es würde schwer sein zu verhindern, daß aus diesem Mißverständnis Haß zwischen ihnen entstand.
     
    Wieder auf dem Zimmer, fühlte sich Perlmann leer und ermattet wie ein Schauspieler nach der Vorstellung. Würden sie es als eine bloße Laune ansehen, oder hatte er sich mit seiner selbstkritischen Orgie bereits unwiderruflich zum Sonderling gemacht? Dann war da die Sache mit seinem angeblichen Thema, und schließlich würde es nicht mehr lange dauern, bis sie entdeckten, daß er das Zimmer gewechselt hatte. Was für ein Bild von ihm ergab das in ihren Köpfen? Perlmann glitt in einen Halbschlaf, in dem er es an der Tür klopfen hörte, zuerst nur leise, dann immer lauter, bis es ein Hämmern war, das von tausend Fäusten zu stammen schien. Er stemmte sich gegen die Tür, verbarrikadierte sich mit Hilfe des Schranks, jetzt hörte er, wie das Holz unter den Axthieben splitterte, als erstes wurden Millars Zähne sichtbar, große, weiße Zähne, die vor Gesundheit strotzten, dann der ganze Millar in Admiralsuniform, dahinter Ruges Riesenkopf, aus dem das glucksende Lachen herauskullerte wie bei einer Puppe, und aus dem Dunkel des Flurs kam Evelyn Mistrals Stimme, verzerrt zu einem schrillen, ordinären Lachen.
    Er schreckte auf, und auf dem Weg ins Bad legte er an der Tür die Kette vor, beschämt über sein Tun. Später stand er am offenen Fenster, zwei Schritte hinter der Brüstung, und sah in den strömenden Regen hinaus. Ohne das südliche Licht wirkte die Bucht wie eine verlassene Bühne nach der Aufführung oder wie ein Vergnügungsviertel frühmorgens, wenn die Lichter gelöscht sind – so ernüchternd und schäbig, daß man sich betrogen und verkatert fühlte. Drüben auf dem öffentlichen Stück Strand sah man jetzt plötzlich vor allem die Abfälle und den Dreck, leere Flaschen und Plastiktüten, und nun fiel auch ins Auge, daß die blauen Umkleidekabinen dringend einen neuen Anstrich brauchten.
    Er griff zu Leskovs Text. Er hatte nur die wenigsten der herausgeschriebenen Wörter behalten, und es dauerte eine Weile, bis er in den Fluß des Gedankengangs zurückfand. In einem nächsten Schritt wollte Leskov nun zeigen, daß diejenige Art von artikuliertem Selbstbild, auf der unser Erinnern beruhe, nur durch sprachliche Konturierung, durch das Erzählen von Geschichten, zustande kommen könne. Gleich nach dieser Ankündigung kam ein Absatz, der Perlmann das Gefühl gab, kein Wort Russisch zu können, so undurchsichtig war

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