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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Erregung auch in ihm selbst vibrierte. Er schob ein zweites, viel zu großes Stück Fleisch in den Mund und machte, während er kaute, eine entschuldigende Geste. «It’s okay», sagte er schließlich und versuchte ein Lächeln, in dem zum Ausdruck kommen sollte, daß er Millar die Kritik an ihm nicht übelnahm.
    «Ich verstehe», grinste Millar, als Perlmann sonst nichts sagte,«Sie sparen sich die Entgegnung bis morgen auf. Ich freue mich darauf.»
    Wieder in seinem Zimmer überrannte Perlmann seinen Widerwillen durch besonders forsche Bewegungen und setzte sich mit gekünsteltem Schwung an den Schreibtisch. Millars Texte waren wie üblich von einer niederschmetternden Brillanz, das konnte man schon beim ersten Durchblättern erkennen. Seine Zwischenüberschriften hatten fast immer die Form einer Frage, und für seine originellen Fragen, die schon so manche Untersuchung angestoßen hatten, war er berühmt. Hinzu kam, daß sein Wortschatz für einen wissenschaftlichen Autor ungewöhnlich groß war und er einen unverwechselbaren Stil entwikkelt hatte, indem er geschickt mit der Anschaulichkeit idiomatischer Wendungen jonglierte und sich nicht scheute, mitten in einem trockenen Satz, der irgendwelche Daten zusammenfaßte, einen Slangausdruck platzen zu lassen wie eine Bombe. Es gab auch Leute, die Millars Stil grell und affig fanden, aber sie waren immer in der Minderzahl gewesen, und inzwischen wagte das niemand mehr laut zu sagen. Nur Achim Ruge, der selbst einen ausgedörrten, an Kanzleisprache erinnernden Stil schrieb, hatte vor einiger Zeit auf einer Tagung eine entsprechende Bemerkung gemacht, die hinter vorgehaltener Hand kolportiert wurde.
    Perlmann hatte keinen Einwand; nicht einen einzigen. Er hatte mit dem neueren der beiden Texte begonnen, um Millars Kritik hinter sich zu bringen. Es fiel ihm nichts ein, was er auf diese Kritik hätte erwidern können. Während er mit dem gezückten Stift vor dem leeren Notizblock saß, erklang aus Millars Zimmer ab und zu ein Fortissimo. Die Kritik war scharf, eigentlich sogar vernichtend. Er war verblüfft, daß sie ihm trotzdem nichts ausmachte. Es war ein bißchen wie bei einer Lokalanästhesie, und als er die kritischen Passagen hinter sich hatte, war ihm fast heiter zumute.
    Doch dann, als er mit dem Text fertig war, erschrak er über seine Gleichgültigkeit. Um einen Einwand erheben, auf eine Kritik reagieren zu können, mußte man Meinungen haben, ausformulierbare, angebbare Meinungen. Und genau die hatte er nicht. Er war seit einiger Zeit ein Mann ohne Meinungen, zumindest, was sein Fach betraf. Er war mit allem einverstanden, wenn es nicht gerade offenkundiger Blödsinn war. So deutlich wie gerade jetzt hatte ihm das noch nie vor Augen gestanden.
    Er trat ans offene Fenster. Das Lichterband bei Sestri Levante war jetzt ganz regelmäßig und still. Wie war das damals, als er noch Meinungen hatte? Woher waren sie jeweils gekommen, und warum war die Quelle versiegt? Kann man sich dazu entschlieβen, etwas zu glauben? Oder sind Meinungen etwas, was einem einfach zustößt?
    Bei Ruge war es schon vorhin dunkel gewesen, und jetzt erlosch auch der Lichtschein aus Millars Fenster. Aber es war besser, mit dem Umzug noch eine halbe Stunde zu warten. Zwei Tage von dreiunddreißig. Ein Sechzehntel also war bereits vorbei. Es war eine Rechnung wie damals in der Schulzeit. Und wie damals ging es ihm auch jetzt merkwürdig damit: Im einen Moment erschien ihm das bereits eine Menge. Eigentlich, dachte er dann, war es ziemlich schnell gegangen, und wenn es so weiterginge, wäre schnell alles vorbei. Daß jetzt noch fünfzehnmal dieselbe Zeitspanne dazukam, schien fast eine Kleinigkeit. Im nächsten Moment dann kam es ihm wie eine Ewigkeit vor: einmal und noch einmal und noch einmal... Wie ein Langstrekkenläufer durfte man nicht an das Ganze denken, sondern mußte sich darauf konzentrieren, den nächsten, überschaubaren Abschnitt zu bewältigen.
    Verstohlen öffnete er die Tür und vergewisserte sich, daß niemand auf dem Flur war. Dann lief er gebückt zur Treppe, die Koffer nur knapp über dem Boden, und hastete in den obersten Stock, trotz des schweren Gepäcks immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Keuchend setzte er die Koffer im neuen Zimmer ab und eilte noch einmal zurück. Zusammen mit der Grammatik und dem Wörterbuch ergaben die Texte von Millar und Leskov einen großen, unförmigen Stapel, den er mit dem Mantel zudeckte. Nach einem prüfenden Blick durchs Zimmer

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