Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
brauche ja nicht wieder eine Stelle als Chefarzt zu sein. < Verstehst du: Sonst verliere ich Jose Antonio>, sagte er mit Tränen in den Augen. Dabei war er ein sehr zärtlicher Vater. Wie das zusammenpaßte, habe ich nie begriffen. Aber seither erkenne ich Menschen, die viel leeren Raum um sich herum brauchen, sehr schnell, und ich irre mich selten. – Natürlich meine ich damit nicht, du littest unter Platzangst», schloß sie lächelnd.
Ihr konnte er es erzählen, bei ihr konnte er sich seine Not von der Seele reden – so, als säßen sie zusammen in der großen Küche. Perlmann zündete eine Zigarette an und trat einen Moment ans Fenster, um sich die ersten Worte zurechtzulegen.
«Aber ich bin ja wegen etwas ganz anderem gekommen», sagte sie, als er sich, zum Erzählen bereit, zu ihr umdrehte.«Einmal wollte ich sagen, wie sehr mich die innere Freiheit beeindruckt hat, mit der du heute morgen über deine Arbeiten geredet hast. Ich hatte zwar, wie du nachher bemerkt haben wirst, nicht den Eindruck, Brian habe das wirklich alles widerlegt. Aber die Ruhe, ja eigentlich Freude, mit der du die Möglichkeit eines durchgängigen Irrtums einräumen konntest! Wie schaffst du das bloß?»
«Vielleicht ist es das Alter», sagte Perlmann mit einem Kloß im Hals und wäre vor Scham über die Albernheit dieser Antwort am liebsten in den Erdboden versunken.
«Na, ich weiß nicht», lächelte sie, unsicher, wie ernst er es gemeint hatte.«Jedenfalls fand ich es toll. -Und das andere war: Ich hätte gern über dein neues Thema mit dir gesprochen. Was du gestern morgen angedeutet hast, hat mich richtiggehend elektrisiert, denn der Einfluß, den die sprachliche Artikulation aufs Erinnern hat, muß ja eng verwandt sein mit dem sprachlichen Verfeinerungsprozeß der Phantasie, den ich untersuche. ¿Verdad?»
Perlmann entschuldigte sich und ging ins Bad, wo er minutenlang warmes Wasser über die kalten Hände laufen ließ. Vor allem Zeit gewinnen mußte er, und dann daraufhin wirken, daß hauptsächlich sie redete. Wieder im Zimmer, schlug er vor, am Jachthafen einen Kaffee zu trinken. Er möge das Licht und den Geruch, wenn, wie jetzt, nach einem Regenguß die Sonne durchbreche.
Den Gedanken mit den erinnerten Szenen, in die man, wenn auch oft unausdrücklich, ein Bild seiner selbst hineinprojiziere, fand sie einleuchtend und fing an zu überlegen, wie das bei Phantasieszenen und Träumen sei. Manchmal lehnte sie sich zurück, die verschränkten Arme über dem Kopf, den Blick aus den halbgeschlossenen Augen aufs Meer gerichtet, und dachte laut über Beispiele nach. Sie war so angespannt, daß sie beim Erscheinen des Kellners zusammenfuhr und ihm mit einem heruntergenommenen Arm eine Kaffeetasse aus der Hand schlug. Als der Kellner dann mit ihr schäkerte und ihr alles verzieh, hörte er sie zum zweitenmal italienisch sprechen. Sie sprach es so mühelos wie Spanisch, nur die herben Vokale fielen aus dem Rahmen. Mama sei Italienerin gewesen, erklärte sie, und zu Hause sei zwanglos beides gesprochen worden.
«Wie bei Giorgio, nur daß es da umgekehrt war. Wir haben schon oft gelacht, weil wir nicht wußten, wofür wir uns entscheiden sollten. Sein Vorschlag ist: bis zwei Uhr dreiundzwanzig Spanisch, danach Italienisch», lachte sie.
Sie war durch dieses Zwischenspiel nicht, wie Perlmann gehofft hatte, vom Thema abgekommen und fragte ihn jetzt, ob er für den Fall der Erinnerung einen Grund kenne, warum die Ausdifferenzierung des hineingelesenen Selbstbilds im Medium der Sprache erfolgen müsse. Sie selbst sei schon lange auf der Suche nach einer entsprechenden Begründung für den Fall von Phantasie und Wille. Es genüge ihr nicht, sagte sie mit einem Gesicht, auf dem Perlmann plötzlich die mattsilbrige Brille zu sehen meinte, daß es da ein eindeutiges Zusammenspiel in der Entwicklung der betreffenden Fähigkeiten gebe. Sie möchte etwas haben, was einen engeren, sozusagen inneren Zusammenhang zwischen den Phänomenen sichtbar machen könnte. Ob er ihr da weiterhelfen könne?
Perlmann dachte an die vier widerspenstigen Sätze in Leskovs Text. Ja, das sei eine wichtige Frage, sagte er und drehte sich zum Wasser. Unzählige Male schon hatte er sich gewünscht, auf eine solche Frage hin zunächst einmal eine Weile schweigen zu können – sie erst einmal ganz für sich allein wirken zu lassen, ohne sie als eine Drohung zu empfinden, die einem gar keine andere Wahl ließ, als sofort mit einer Antwort aufzuwarten, oder aber sich
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