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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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weit in den Vormittag hinein und ließ sich dann ein großes Frühstück bringen. Schon bei der ersten Tasse Kaffee geriet er wieder in den Sog des Übersetzens, und jetzt nahm ihn neben der Erfahrung des immer schnelleren Verstehens auch der weitere Gedankengang des Texts gefangen.
    Leskov griff nun die Vorstellung an, nach der es sich beim Erzählen erinnerter Szenen um eine schlichte Schilderung auftauchender Bilder handle, um eine sprachliche Bestandsaufnahme eines festgefügten Materials, das durch seine eindeutig bestimmten Konturen die Logik der Erzählung diktiere. Das sei weder bei den objektiven Fixpunkten einer Szene so, noch bei den Facetten des hineingelesenen Selbstbilds. Erzählen der eigenen Vergangenheit, das sei jedesmal von neuem ein Unternehmen, bei dem ganz andere Kräfte am Werk seien als die Absicht, Aufgezeichnetes in detailgetreuer Weise abzurufen. Da sei vor allem das Bedürfnis, aus der erinnerten Szene und der eigenen Anwesenheit in ihr ein sinnvolles Ganzes zu machen, und entsprechend werde mangelnder Sinn als Unvollständigkeit des Erinnerns gedeutet.
    Perlmann stockte. Was hieß hier smysl, Sinn? Er hätte am liebsten gleich die Antwort in abstrakter Form gelesen. Aber nun kamen erst einmal mehrere Seiten mit Beispielen, und der Text wurde entsprechend schwierig, denn Leskovs Beschreibungen waren atmosphärisch genau, witzig, und ab und zu fand sich ein Satz, der, so vermutete Perlmann, poetischen Glanz hatte. Er hätte gerne gewußt, ob auch ein Russe hier einen Bruch mit dem knappen, lakonischen Stil sah, der in dem Text sonst regierte, oder ob, wer im Russischen lebte, immer noch eine einheitliche stilistische Gestalt wahrnahm. Jedenfalls wurde das Übersetzen nun erneut mühsam, er mußte mehrfach die Grammatik heranziehen, und die Beschränkungen des Wörterbuchs waren ärgerlich. Gereizt schickte er das Zimmermädchen wieder weg.
    Die Dämmerung senkte sich bereits auf die Bucht und verlieh dem Meer einen metallenen Schimmer, als Perlmann endlich beim Fazit aus den Beispielen angelangt war. Die stärkste Kraft im erzählenden Erinnern, schrieb Leskov, sei der Wunsch, das vergangene Selbst in seinem Tun zu verstehen. Aus diesem Wunsch heraus lege man sich die vergangenen Szenen so zurecht, daß die eigenen Handlungen und auch die Empfindungen als einsehbar und vernünftig erschienen. Das heiße nicht, sie an einem abstrakten Katalog von Vernunftmerkmalen zu messen. Es heiße einfach dies: Die erzählte Vergangenheit müsse aus der Sicht des jetzigen Erzählers nachvollziehbar sein. Der Erzähler werde nicht ruhen, bevor er sich in seinem vergangenen Selbst wiedererkennen könne. Und das beziehe sich nicht nur auf Fragen der Klugheit und Zweckmäßigkeit des damaligen Handelns, sondern vor allem auch auf seine moralischen Aspekte. Erzählendes Erinnern sei stets auch ein Rechtfertigen, ein Stück erfinderischer Apologie.
    Es war kurz vor halb acht, als Perlmann in der Mitte der Seite dreiundvierzig erschöpft innehielt. Zwei Dutzend Seiten des Vokabelhefts waren voll, und rechts neben dem Mittelstrich gab es viele Lücken. Noch fünfundzwanzig Seiten. Wenn er morgen sehr früh aufstand, konnte er es bis zum Ende schaffen. Und jetzt wollte er es wissen: Die Sache mit den erfinderischen Elementen im Erinnern war ja schön und gut; aber wo blieb bei Leskov der erlebte sinnliche Gehalt der Erinnerung? Der Vater hatte, als er ihn zuletzt sah, wie immer seine verfilzte Strickjacke angehabt, und daran, daß die Farbe der Wolle je nach Beleuchtung zwischen einem dunklen Olivgrün und einem hellen Anthrazit geschwankt hatte, war nun wirklich nichts Erfundenes, es störte ihn jetzt in der Erinnerung genau wie damals. Oder das laute Poltern, mit dem die gefrorenen Erdklumpen auf den Sarg der Mutter gefallen waren: Was machte Leskov damit? Sinnlicher Gehalt? schrieb er an den Rand.
    Bevor er zum Abendessen ging, blätterte er gedankenverloren in Ruges Text. Wenn ich Montag morgen damit beginne, habe ich für meinen eigenen Beitrag noch fünfzehn Tage. Erst auf der Treppe fiel ihm auf, daß ihn dieser Gedanke nicht in Panik versetzte. Er blieb stehen. Es war, als würde der Gedanke von einem anderen, einem gänzlich Unbeteiligten, gedacht, und es beschlich ihn das unheimliche Gefühl, daß er dabei war, sich von sich selbst abzuspalten.
    «Ich habe gestern und heute mehrmals bei Ihnen geklopft, Phil. Ich wollte über die verblüffende Frage reden, die Sie in der Sitzung gestellt haben», sagte

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