Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
was Millar spielen werde, ohne Zögern Bach genannt hätte. Bach und vielleicht noch klassischer Jazz, das waren die Klänge, die zu seinen unerhört blauen Augen in dem klaren, wachen Gesicht paßten, und zu seiner gut gegliederten, übersichtlichen Art zu denken, zu sprechen und zu schreiben.
Er spielte brillant, oder besser – dachte Perlmann nach einer Weile -: Er spielte kompetent, auch wenn das in diesem Zusammenhang ein ungewöhnliches Wort war. Das einzuräumen war Perlmann sofort bereit, das hätte er von Millar nicht anders erwartet. Aber es war mehr an Millars Spiel. Er nahm es nur widerstrebend wahr, aber Millar spielte seinen Bach in einem ganz bestimmten Stil, einem Stil zudem, der ihm in dieser extremen Ausprägung noch nie begegnet war. Er suchte lange nach Worten dafür und entschied sich schließlich für die Formel, daß hier Melodie vollständig in Struktur aufgelöst wurde. Er suchte damit zwei Besonderheiten im Erleben einzufangen, die durch Millars Spiel hervorgerufen wurden. Die eine betraf die Art, in der man das Ausgebreitetsein der Tonfolgen in der Zeit wahrnahm. Die Töne, obgleich sie im gewöhnlichen Sinne verklungen waren, blieben in einem anderen Sinne gewissermaßen stehen, die nachfolgenden Töne fügten sich aufbauend an, und so wuchs von Takt zu Takt eine Architektur, die man in erlebter Gleichzeitigkeit vor sich hatte. Die im Moment erklingenden, führenden Töne waren, dachte Perlmann, wie die sich bewegende Spitze einer schreibenden Kreide, deren vergangenen Bewegungsverlauf man als ganzen auf der Tafel vor sich sah. Aber ist das bei einer Melodie nicht immer so, ist das nicht geradezu das Wesen musikalischer Gestalt, woran liegt es nur, daß es bei ihm wie etwas Neues und Eigenes, etwas Besonderes wirkt, wie macht er das bloß.
Die andere Wirkung von Millars Spiel war, daß man sich der gehörten Melodie nicht überlassen konnte. Man konnte sich keinen Moment lang in sie hineinfallen lassen, man wurde draußen gehalten wie durch eine unsichtbare Wand, und das machte das Zuhören anstrengend, ohne daß man es richtig merkte. Perlmann probierte eine Reihe von Eigenschaftswörtern aus: herb, spröde, sachlich, kalt, intellektuell, gotisch. Er verwarf sie alle, sie waren oberflächlich und klischeehaft. Man mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Besonderheit von Millars Spiel nicht einfach Ausdruck eines Temperaments, eines Charakters war, sondern daß sie eine regelrechte Interpretation, eine Auslegung von Bachs Musik darstellte.
Perlmann versteckte die rechte Hand unter der linken und versuchte, Millars rechte Hand nachzuspielen. Dazu bewegte er unauffällig die Füße. Es war lange her, daß er das gemacht hatte. Damals, als Abiturient, hatte er so gut wie jedes Konzert gehört, an dem ein Pianist beteiligt war, und manchmal war er per Anhalter auch noch nach Lübeck und Kiel gefahren. Am liebsten waren ihm reine Klavierabende, da konnte man sich ohne Ablenkung ganz auf den Pianisten konzentrieren. Hinten, auf den billigen Plätzen, konnte man ungeniert die Augen schließen und im Dunkeln die vorne spielenden Hände zu imitieren versuchen. Die meisten Werke, die er auf diese Weise zu hören bekam, kannte er bereits, sein musikalisches Gedächtnis war – von Bach abgesehen – ausgezeichnet. Daran hatte es nicht gelegen. Ob Millar weiß, was das ist: eine Angststelle?
Inzwischen hatten sich auch die Gäste von außerhalb, die vorhin beim Abendessen gesessen hatten, im Salon eingefunden. Die ockerfarbenen Sessel waren alle besetzt, die Tür zur Bar stand offen, und die festliche Kleidung trug zu dem Eindruck bei, daß hier ein kleines Konzert stattfand. Millar spielte nun schon eine halbe Stunde, und auf einmal fand Perlmann seinen Bach flach und langweilig. Er wäre am liebsten schnell in die Trattoria gegangen und hätte in der Chronik nachgelesen, was damals, als er die grauhaarige, gebeugte Clara Haskil in einem ihrer letzten Konzerte gehört hatte, draußen in der Welt geschehen war.
Millar, der über die Größe verblüfft schien, die das Publikum hinter seinem Rücken angenommen hatte, bedankte sich für das Klatschen mit einer sportlichen Verbeugung, die Perlmann ein bißchen ans Salutieren erinnerte. Am lautesten und längsten klatschte Adrian von Levetzov, der zunächst Anstalten machte aufzustehen, dann aber, nach einem Blick in die Runde, auf der Kante seines Sessels sitzenblieb.
«i Un extra!» rief Evelyn Mistral.«Was heißt das auf englisch?»
«An encore»,
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