Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
unten», meinte Frau Hartwig,«hier haben die ersten Herbststürme begonnen. Einige Leute können sich denn auch neidische Bemerkungen nicht verkneifen. Sie können sich ja denken, welche. »
Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, setzte sich Perlmann in den roten Sessel und griff zu Leskovs Text. Doch bald ließ er ihn wieder sinken. Sie werden doch sicher für Italien etwas schreiben, hatte Frau Hartwig Ende Juli gesagt. Perlmann hatte nur genickt und sich weiter am Regal zu schaffen gemacht. Sie habe übrigens ihren Urlaub verschoben, erklärte sie ein paar Tage später. Auf die Zeit vor Weihnachten. Danach war er nur noch während ihrer Abwesenheit ins Büro gegangen und hatte die Anweisungen auf Band gesprochen. Ende September dann hatte sie zögernd gefragt, ob sie nun doch zwei Wochen Urlaub nehmen könne, oder ob er sie brauche.«Fahren Sie nur», hatte er geantwortet, und zur Tarnung hatte er die Erleichterung in seiner Stimme in eine Begeisterung für die Insel Elba umgemünzt, mit der er außer Napoleon nicht das geringste verband.
In Leskovs Text kamen nun mehrere Seiten, auf denen er sich mit dem Einwand auseinandersetzte, daß wir uns doch an viele Episoden erinnerten, die wir nie in die Form einer Geschichte brächten. Wie konnte er dann behaupten, daß die Sprache eine derartige Schlüsselrolle im episodischen Gedächtnis spiele?
Leskovs Erwiderung war eigenbrötlerisch formuliert, dachte Perlmann, aber im Grunde waren ihm die Elemente des Gedankengangs bekannt, und plötzlich ging es mit dem Übersetzen so rasch wie noch nie zuvor. Einmal erfaßte er einen Satz buchstäblich auf einen Blick, und nachher kam es ihm vor, als habe er in diesem Moment vergessen, daß es ein russischer Satz war – so widerstandslos hatte sich ihm der Sinn erschlossen. Mit atemloser Freude las er immer weiter, die Wahrheit von Leskovs Thesen war nebensächlich, die Hauptsache war das Verstehen. Eigentlich, das merkte er jetzt, hatte er viele der herausgeschriebenen Wörter bereits im Kopf, sein Selbstvertrauen wuchs von Absatz zu Absatz, und nun hatte er auf einmal auch eine unwahrscheinlich glückliche Hand beim Aufschlagen der richtigen Seiten im Wörterbuch, es grenzte an Hellsehen. Als er schließlich das Licht anmachen mußte, war er oben auf Seite zwanzig.
Zigaretten konnte er dort bekommen, wo Sandra sie gestern geholt hatte. Sandra. Die versprochenen Briefmarken aus Deutschland. Er holte Frau Hartwigs Umschlag aus dem Papierkorb und trennte die Briefmarken heraus. Dann verließ er das Hotel durch den Hinterausgang und ging in Richtung Trattoria.
Heute käme er aber spät, scherzte die Wirtin, als sie ihm die Chronik brachte, da müsse er sich schon etwas auf der Speisekarte aussuchen. Perlmann schlug das Jahr auf, in dem der Vater aus dem Mittagsschlaf nicht mehr aufgewacht war. Die Schallplattenfirma Decca war nach Probeaufnahmen zu der Ansicht gelangt, die Musik der Beatles habe keine Zukunft, und hatte die Produktion abgelehnt. Antonio Segni wurde italienischer Staatspräsident. Das war ein Name, der Perlmann nichts sagte, und er verfolgte den biographischen Abriß bis in jede Einzelheit. Adolf Eichmann wurde gehängt.
Das hatte der Vater gerade noch erlebt. Er habe nach der Meldung wortlos das Radio abgedreht, hatte die Mutter berichtet.«Er war kein Brauner, das weißt du», hatte sie hinzugefügt,«es ist nur so, daß er sich irgendwie angegriffen fühlt, wenn von diesen Dingen die Rede ist. »Am Grab hatte sie ihn überrascht: Sie, die sonst nahe am Wasser gebaut hatte, vergoß nicht eine einzige Träne.
Zum zweitenmal überrascht hatte sie ihn im Herbst danach, dieses Mal durch ein Interesse für die Kubakrise, das er ihr nicht zugetraut hätte. Es ging ihr, hatte er den ganzen Winter über den Eindruck, so gut wie noch nie. Und dann, irgendwann im Frühjahr, begann der erschreckend rapide Verfall. Die Welt schrumpfte für sie zusammen auf den Illustriertenkitsch über Kilius-Bäumler, Kennedy in Berlin war kein Thema, und als er sie in Irma la douce schleppte, faselte sie nachher etwas von Pornographie. Als er ihr vom Tod Edith Piafs erzählte, wußte sie nicht mehr, wer das war, obwohl sie ihre Chansons jahrelang heimlich gehört hatte, wenn der Vater mit den anderen Postlern am Stammtisch saß. Den Mord von Dallas nahm sie dann gar nicht mehr wahr. Am Tag schlief sie mit offenem Mund, und ab zehn terrorisierte sie die Nachtschwester.
Als er an einem der ersten Tage des neuen Jahres ins Krankenhaus
Weitere Kostenlose Bücher