Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
kam, lag bereits jemand anderes in ihrem Bett. Nein, er wolle sie nicht noch einmal sehen, hatte er der Schwester erklärt, die über die Schärfe in seiner Stimme erschrak. Und es war nicht bei diesem einen Ausbruch geblieben. Die Zeremonie am Grab war noch nicht ganz beendet, da hatte er sich vor aller Augen eine Zigarette angezündet. Warum war es ihm nicht gelungen, jenen kostbaren Moment der Befreiung in eine dauerhafte Abgrenzung gegen die anderen umzuwandeln, in eine ruhige Unbeflissenheit, eine Furchtlosigkeit, die keine effektvollen Gesten nötig hatte? Er lachte vor sich hin und biß sich gleichzeitig auf die Lippen, als er daran dachte, wie er die Verwandten vor dem Gasthaus einfach hatte stehenlassen. Auf die verdutzte Frage, warum er denn nicht zum Leichenschmaus bleibe, wo er doch dafür bezahle, hatte er gesagt:«Vor allem, weil ich mich vor diesem Wort ekle. »Dann war er um die Ecke verschwunden.
Das Essen drüben im Hotel sei wohl nicht ganz so gut wie sein Ruf, grinste der Wirt, als er in einer Servierpause an Perlmanns Tisch trat. Perlmann sah auf die Uhr. Zehn nach acht. Es reichte noch. Doch, doch, sagte er, klappte die Chronik zu und griff nach der Brieftasche. Um ein Haar wären die Briefmarken in den Rest Tomatensauce gefallen. Die seien für Sandra, sagte er und streckte sie dem Wirt hin. Nein, nein, meinte der, Perlmann müsse sie Sandra persönlich bringen, sie sei sonst enttäuscht. Und dann führte er ihn die Treppe hinauf in Sandras Zimmer, das, wie die ganze Wohnung, eng und mit lauter Kram vollgestellt war.
Sandras Freude über die Briefmarken war getrübt durch die Probleme mit dem Englisch. Sie sei doch sonst ein so kluges Kind, seufzte die Mutter, aber mit dieser komischen Schreibweise, die so wenig mit der Aussprache zu tun habe, käme sie einfach nicht zu Rande. Und sie, die Eltern, könnten ihr dabei nicht helfen. Ob er nicht einen Moment bleiben und ihr das eine oder andere erklären könne? Bei der Klausur am Montag drohe sonst nämlich eine Katastrophe, er brauche sich bloß die letzte Arbeit im Heft anzusehen, da sei mehr rote als blaue Tinte.
Perlmann blieb bis elf. Auf einem unbequemen Schemel sitzend ging er die beiden letzten Arbeiten mit ihr durch und erklärte ihr dann noch einiges aus der Grammatik. Oft war sie den Tränen nahe, aber am Schluß lächelte sie tapfer, und er strich ihr übers Haar.
Anschließend brachte ihm der Wirt Mandeltorte und einen Grappa. Jetzt spielte die Zeit ohnehin keine Rolle mehr, und er las sich in der Chronik durch das begonnene Jahr. Der Zwischenfall im Golf von Tonking. Richtig, damit hatte der Vietnamkrieg begonnen. Chruschtschows Entmachtung. Der Tod von Palmiro Togliatti, dem Kommunisten. Ihn kannte Perlmann, aber er hatte nicht gewußt, daß er die Verbrechen Stalins nur widerstrebend verurteilt hatte. Und schließlich Sartre, der den Nobelpreis abgelehnt hatte. Wie genau hatte seine Begründung gelautet? Der Text der Chronik war konfus und ließ Sartre wie einen Wirrkopf erscheinen. Perlmann probierte verschiedene Begründungen aus, als er um ein Uhr über die menschenleere Piazza Veneto und die Uferpromenade zum Hotel ging.
Giovanni, der im Nebenraum vor dem Fernseher gesessen hatte, überreichte ihm einen fast hundert Seiten dicken Text von Achim Ruge, die Vorlage für Montag. Die anderen hätten im Verlauf des Abends mehrfach nach ihm gefragt, sagte er.«Weil Sie doch auch gestern nicht beim Essen waren», fügte er hinzu. Perlmanns Hand umklammerte den Text so krampfhaft, daß die oberste Seite aus der Heftklammer gerissen wurde. Wieder hätte er den pomadigen Kopf mit den lächerlichen Koteletten am liebsten geohrfeigt. Wortlos wandte er sich ab und trat in den offenen Fahrstuhl.
In seinem Korridor brannten alle Birnen in allen Lampen. Einen Moment lang war er versucht, die Leiter zu holen, doch dann betrat er sein Zimmer und ließ sich im Dunkeln aufs Bett fallen. Nach einer Weile erschienen noch einmal die Bilder der neuen Patientin in Mutters Bett, der erschrockenen Krankenschwester, des Sargs, der sich ins Grab senkte.
Er ging ins Bad und schluckte die kleine Ecke der Schlaftablette von gestern. Edith Giovanna Gassion hatte Edith Piaf eigentlich geheißen, dachte er, bevor er sich in den Schlaf fallen ließ. Die vereinzelten Schneeflocken waren auf dem Sarg der Mutter geschmolzen. Er hatte das widerwärtig gefunden. Vielleicht hatte die ungehörige Zigarette auch damit zu tun gehabt.
8
Perlmann schlief bis
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