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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Dieser Haß war in ihm gewesen, lange bevor er Agnes begegnete. Aber erst dadurch, daß die Empfindung bei ihr ein Echo fand, war sie ihm ganz zu Bewußtsein gekommen. Was Agnes am wenigsten vertragen hatte, waren Leute, die nicht nur konventionell handelten und dachten, sondern auch konventionell fühlten. Leute, die das fühlten, was sie glaubten, fühlen zu müssen. Ihre Versuche, das Thema fotografisch einzufangen, waren mißlungen. Er hörte ihre dunkle, tragende Stimme, die so tapfer hatte klingen können, um dann manchmal in tiefste Melancholie abzustürzen: Man kann bestenfalls zeigen, was die Menschen fühlen; nicht, daß es echter wäre, jetzt anders zu fühlen. Dafür gibt es keine Bilder. Der Haß auf konventionelles Empfinden war ein starkes Band zwischen ihnen gewesen. Aber er hatte sie oft auch von Leuten entfremdet, die sie mochten. Durch ihn waren sie wider Willen menschenscheu geworden.
    «Das wäre jetzt eigentlich der Moment, etwas für uns zu spielen», sagte von Levetzov zu Millar und deutete mit einem Lächeln voller schmeichlerischen Respekts auf den Flügel. Er behandelt ihn wie seinen genialen Starschüler, der durch seine vielfältigen, überragenden Begabungen längst über ihn selbst hinausgewachsen ist. Das hätte er doch nicht nötig. Er doch nicht.
    «Oh, ja, das wäre super! »rief Evelyn Mistral aus.
    Perlmann ärgerte sich über ihre Jungmädchenbegeisterung und die Teenagersprache, die ihm bei ihrer Ankunft so gut gefallen hatte, weil sie zu dem roten Elefanten auf dem Koffer paßte. Gegen alle Vernunft war er über ihre Begeisterung empört und warf sie ihr innerlich vor – als sei sie verpflichtet zu wissen, zu welchem Alptraum Millar allmählich für ihn wurde, und als sei sie es ihm schuldig, sich diese Empfindungen zu eigen zu machen.
    «Wenn man darauf besteht», lächelte Millar und wuchtete sich aus dem tiefen Sessel. Mit federndem Schritt ging er hinüber zum Flügel, knöpfte den Blazer auf und rückte die Klavierbank zurecht. Er machte, dachte Perlmann, das Gesicht von einem, der sich bemühte, nicht eitel auszusehen, obwohl er wußte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren.
    Die Bewegungen seiner Hände waren sparsam, energisch bei den kraftvollen Akkorden, aber ohne exaltierte Künstlergesten, er hob die Hände nie höher als wenige Zentimeter über die Tastatur. Widerstrebend gestand sich Perlmann ein, daß ihm das gefiel. So hatte er selbst auch zu spielen versucht.
    Und trotzdem fand er Millars Hände abstoßend. Sie waren, das nahm er zum erstenmal bewußt wahr, behaart bis zu den Fingergliedern, die dichte Behaarung der Arme setzte sich in die Hände hinein fort wie ein Pelz.
    Er verglich die spielenden Hände mit den Händen der vier anderen Männer. Das einzig Störende an Silvestris schlanken, weißen Händen war der gelbliche Schimmer am rechten Zeige- und Mittelfinger. Angelini hielt gerade eine Zigarette, und an seinen gebräunten Fingern hätte man das Nikotin ohnehin nicht so deutlich sehen können. Von Levetzov hatte die Hände um das übergeschlagene Knie gefaltet, gepflegte, glatte Hände mit ersten Altersflecken, am kleinen Finger der linken Hand ein Siegelring mit seinen kunstvoll verschlungenen Initialen. Achim Ruges Hände lagen auf den breiten Sessellehnen, schwere Hände, die eher an einen Handwerker oder Bauer denken ließen als an einen Wissenschaftler. Perlmann mochte sie, so wie er es seit dem Zimmerwechsel überhaupt leicht fand, Ruge zu mögen.
    Das Gesicht, das Millar beim Spielen machte, paßte zu den nüchternen, sachlichen Bewegungen der Hände. Es war ein aufmerksames, konzentriertes Gesicht, das man ergriffen nennen konnte, ohne daß Millar den geringsten Versuch gemacht hätte, die Musik oder seine Empfindungen durch Mimik zu kommentieren. Auch das gefällt mir eigentlich. Warum kann ich diesen Brian Millar nicht einfach nehmen, wie er ist, warum muß ich mich unaufhörlich an ihm reiben.
    Millar spielte Bach. Es mußte eine der Englischen Suiten sein, dachte Perlmann, aber er hätte nicht sagen können, welche. Es dauerte eine Weile, bis er seine sonderbare Empfindung einordnen konnte: Es war das Ausbleiben jeglicher Überraschung, daß es Bach war, was Millar spielte. Gut, die Musik aus seinem Zimmer war auch Bach gewesen. Aber das war es nicht, schien ihm. Er hatte den Eindruck, daß es gar nichts anderes als Bach hätte sein können; daß bei Millar einfach nur Bach in Frage kam. Er meinte zu wissen, daß er, vorher gefragt,

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