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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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auszuwischen, förmlich überfallen, ohne auch nur das mindeste an Erklärung zu geben. Immer noch auf der Bettkante sitzend, voll von erschöpfter Ernüchterung, erschrak er über das Ausmaß seiner Selbstbezogenheit. Er drohte in der kleinen Welt dieses Hotels jeglichen Sinn für die Proportionen zu verlieren.
    Also stimmte es, daß sie Klavierlehrerin geworden war. Das hatte sie sich anders vorgestellt, damals. Ich besuche sie, wenn ich wieder zu Hause bin. In vier Wochen und einem Tag.
    Hanna war die einzige gewesen, die seinen Entschluß damals sofort verstanden und richtig gefunden hatte. Sie kannte die Grenzen seiner Begabung genau und stand nicht, wie die Unterrichtenden, unter dem selbstauferlegten Zwang, an den Schüler zu glauben. Nicht, daß sie einen entsprechenden Satz gesagt hätte. Keinen einzigen. Als er sie am Tag, nachdem er den Deckel über der Klaviatur geschlossen hatte, besuchte, rührte sie eine Weile stumm in der Kaffeetasse und fragte dann einfach:«Und was gedenkst du jetzt zu tun?»
    Daß ein Studium an die Stelle der musikalischen Ausbildung treten würde, war etwas, was unbefragt feststand wie ein Axiom. Er mußte einräumen, daß er selbst dieses Axiom auch anerkannt hatte, zumindest in dem Sinne, daß er sich nie sichtbar dagegen aufgelehnt hatte. Und doch, dachte er heute, war es nicht ein Prinzip, das der natürliche, unverstellte Ausdruck seines damaligen Empfindens und in diesem Sinne sein eigenes Prinzip gewesen wäre. Es hatte seinen Ursprung nicht in ihm selbst gehabt, sondern in den Eltern. Nicht so sehr darin, was sie sagten – dagegen hätte man sich ja wehren können. Was die unscheinbare, tückische Macht ausgeübt hatte, war die ganze Art, wie sie waren, der Postbeamte und seine ehrgeizige, halbgebildete Frau. Sie, die Tochter eines Studiendirektors, hatte es nie verwinden können, daß ihr Mann kein Akademiker war, und so mußte der Sohn werden, was der Vater nicht war. Und der Vater, der seiner häuslichen Tyrannei zum Trotz ganz von ihr abhing, hatte sich diesen Ehrgeiz zu eigen gemacht. Die Idee mit dem Pianisten hatte die Eltern zunächst verunsichert; doch dann hatten sie angefangen, vom Sohn als einem Künstler zu sprechen, und natürlich war das noch viel mehr, als wenn er bloß einer der vielen Akademiker geworden wäre, die, wie die Mutter sagte, ja oft ziemlich biedere Leute waren. Als dieser Höhenflug dann frühzeitig zu Ende ging, wurde wenige Tage nach dem Schock und den Vorwürfen das Loblied auf einen soliden akademischen Beruf angestimmt.
    Perlmann konnte sich an kein einziges Gespräch erinnern, in dem unbefangen über das Für und Wider eines Studiums geredet worden wäre. Es war buchstäblich undenkbar, diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen. Das Schlimmste, dachte er, war, daß durch die schweigende Macht dieser Voraussetzung die Phantasie gelähmt worden war, und das ausgerechnet bei der Frage, was man mit seinem Leben im ganzen anfangen könnte – bei der schlechterdings wichtigsten Frage also, mit der einer es zu tun bekam. Als sein Interesse an der Wissenschaft – oder das, was er dafür hielt – zu bröckeln anfing, hatte er darauf zu achten begonnen, von was für Berufen bei anderen die Rede war. Er war maßlos erstaunt darüber, was es alles gab und wovon er nichts gewußt hatte, und dann ging er Agnes damit auf die Nerven, daß er sich in kindischer Empörung beklagte, niemand habe ihm etwas davon gesagt. Anfänglich verfiel er leicht in ein Romantisieren anderer Berufe, vor allem derjenigen, die weit ab von seinem eigenen lagen. Inzwischen war sein Blick nüchterner geworden, analytischer, und bestimmt durch die immer selbe Frage, ob es ihm in einem anderen Beruf leichter geworden wäre, Gegenwart zu erleben.
    Heute nacht haderte Perlmann mit seinen toten Eltern, denn er meinte einen klaren ursächlichen Zusammenhang zu sehen zwischen den unverrückbaren, in ihrer Starrheit dogmatischen Erwartungen, die sie an ihr einziges Kind herangetragen hatten, und der fatalen Lage und inneren Not, in der er sich gegenwärtig befand. Turmhohe Wellen des Anklagens, der Vorhaltung, des Vorrechnens von Schuld und Versäumnis begruben ihn unter sich und rissen ihn, entgegen aller Anstrengung der Vernunft, mit sich fort. Als es auf zwei Uhr ging, nahm er eine halbe Schlaftablette. Um drei spülte er auch noch die andere Hälfte hinunter.
    Er spielte die As-Dur-Polonaise vor einem Publikum, das sich endlos nach hinten in die Dunkelheit des

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