Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
und sinnlos. Er zahlte und trat auf die Straße, ermattet und beschämt. Mit schleppendem Schritt machte er sich auf den Weg zum Bahnhof.
Es war zunächst kaum zu erkennen, daß hinter dem Baugerüst eine Buchhandlung lag, die offenbar gerade eröffnet hatte. Perlmann drehte um und betrat den Laden, der viele Spiegelwände hatte und fabelhaft ausgeleuchtet war. Die Hände in den Taschen schlenderte er an den Tischen mit den Bestsellern entlang, vorbei an den Regalen mit der Belletristik, und weiter in die Sprachabteilung.
Das große Buch mit dem roten Rücken und der schwarzen Beschriftung sprang ihm sofort ins Auge. Es war ein Wörterbuch für Russisch-Englisch und umgekehrt. Das Papier war dünn und gräulich, und wenn man es anfaßte, hatte man nachher einen seifigen Film an den Fingern; aber die Angaben zu den Wörtern waren sehr differenziert und nicht selten eine Viertelspalte lang. Osvaivat’. Perlmann setzte sich in einen eleganten, aber unbequemen Sessel und schlug nach. To assimilate, master; to become familiar with. Er hatte richtig geraten: Was im Prozeß des erzählerischen Erinnerns geschah, war Leskov zufolge, daß man die eigene Vergangenheit bewältigte und sie sich dadurch näher brachte; und genau das waren die Elemente im Begriff der Aneignung. Sich zu eigen machen wäre eine andere Formulierung, dachte er. Wie würde man zwischen den angegebenen Wörtern entscheiden, wenn man den Text ins Englische übersetzte?
Er wünschte, er hätte sein Vokabelheft bei sich, dann könnte er die vielen Lücken, die es darin gab, jetzt auf dem Umweg übers Englische füllen. Er suchte das Regal ab: Ein russisch-deutsches Lexikon hatten sie nicht. Dagegen stand der deutsch-englische Langenscheidt da, den er auch im Hotel hatte. Sich aneignen: to appropriate, to acquire, to adopt. Appropriating, so schien es, war die Handlung, Sachen in seinen Besitz zu bringen, während man acquiring bei der Aneignung von Kenntnissen brauchte und adopting heißen konnte, eine Meinung zu übernehmen und vielleicht auch, eine Haltung einzunehmen. Er griff erneut zum roten Lexikon und schlug to appropriate nach: prisvaivat’. Dann to acquire und to adopt: usvaivat’. Wörter also, die sich jeweils nur durch das Präfix von osvaivat’ unterschieden. Wie genau konnte man sich Leskovs Wortwahl zurechtlegen? Perlmann rückte zur Seite, um eine Frau mit riesigen Ohrringen ans Regal zu lassen, die zielsicher nach dem kleinen russisch-italienischen Wörterbuch griff. Er war versucht, sie anzusprechen und in seine innere Diskussion einzubeziehen, aber da hatte sie sich schon mit einem flüchtigen Lächeln abgewandt und ging zur Kasse. Die eigene Vergangenheit, dachte er, eignete man sich nicht an wie eine Sache. Aber eigentlich auch nicht wie ein Stück Wissen, eine Meinung oder eine Haltung. Hieß aneignen hier nicht auch anerkennen? Für recognizing gab das Wörterbuch soznavat’ an, das auch realizing heißen konnte, für acknowledging priznavat’. Hatte er nicht eines dieser Wörter beim Überfliegen in Leskovs Text gesehen?
Verstohlen blickte er sich um und stellte das Lexikon langsam zurück ins Regal. Er hatte wieder diese Hitze im Gesicht, die man von außen sehen konnte. Agnes jedenfalls hatte sie gesehen, wenn er mit Bergen von Wörterbüchern am Boden saß, und sie hatte dieses heiße Gesicht nicht gemocht. Du siehst dann irgendwie ... fanatisch aus, hatte sie einmal gesagt, und es hatte nichts genützt, daß sie nachher erklärte, das sei das völlig falsche Wort gewesen.
Er war schon zwei Straßen weiter, als er umdrehte. Eine Weile blieb er unter dem Gerüst stehen, wippte auf den Absätzen und sah in den Rinnstein, wo der Rest einer Eistüte in einem ekligen, braunen Brei lag. Dann drehte er sich mit einem Ruck um, ging hinein und holte das große, rote Lexikon aus dem Regal. Dabei machte er, wie der Spiegel zeigte, das Gesicht von einem, der wider Willen eine geheime Mission ausführte. Kreditkarten erst ab hunderttausend Lire, sagte der Mann an der Kasse. Perlmann legte das andere Exemplar des russisch-italienischen Wörterbuchs dazu, das die Frau vorhin gekauft hatte, und jetzt reichte es.
War sich aneignen wirklich eine treffende Übersetzung für osvaivat’? fragte er sich im Zug. Assimilating: Sofern es, wie etwa bei Einwanderern, Angleichung oder Anpassung bedeutete, war es von der Idee der Aneignung ziemlich weit weg. Und mastering konnte hier im Prinzip auch darin bestehen, daß man gewisse
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