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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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größte Musikgeschäft am Ort, sie war, wie sie sagte, dort aufgewachsen. Zunächst hieß es, die Platte sei nicht da, und nach Marias Gesicht zu schließen bezweifelten sie, daß es sie überhaupt gab. Doch dann sagte Maria ein paar undeutliche, bis zur Unkenntlichkeit verschliffene Sätze, die Genueser Dialekt sein mußten, und daraufhin ließen sie im Lager und bei den Neuzugängen nachsehen. Es dauerte lange, Perlmann fühlte sich unbehaglich, und er war Maria dankbar, als sie scherzhaft sagte, da müsse aber eine besonders schöne Musik drauf sein. Sie war sichtlich erleichtert, als sie Perlmann schließlich sagen konnte, die Platte sei da, sie sei mit der letzten Lieferung gekommen und noch gar nicht richtig ausgepackt. Er ließ ausrichten, sie möchten sie für ihn zurücklegen und sie auf gar keinen Fall verkaufen, er würde im Laufe des Nachmittags vorbeikommen. Beim Hinausgehen hätte er Maria gern ein erklärendes Wort gesagt, aber außer einem wiederholten Mille grazie! fiel ihm nichts ein.
    Er holte Geld und Kreditkarten aus dem Zimmer und ging dann zu Fuß zum Bahnhof. Eile hatte keinen Sinn, er wollte nicht schon wieder vor einem wegen der Siesta geschlossenen Geschäft stehen. Auf dem Bahnsteig, wo er fast eine Stunde warten mußte, überfiel einen in unregelmäßigen Abständen, die unerklärlich blieben, ein schrilles Klingeln, das durch Mark und Bein ging. Glücklicherweise war der Zug fast leer. Perlmann zog den schmuddeligen Vorhang vors Abteilfenster und versuchte zu schlafen. Eine Woche war vorbei. Ein Fünftel. War das viel oder wenig? Er wünschte, Silvestri würde sich bald entscheiden, ob er in der vierten oder fünften Woche vortrug. War es erst die fünfte, so blieben ihm selbst nur noch fünfzehn Tage, um einen Beitrag zu schreiben. Sonst waren es achtzehn Tage; neunzehn, wenn er das Kopieren auf Samstag verschob. Samstags arbeitete Maria manchmal nicht. War Kopieren trotzdem möglich? Würden sie ihn gegebenenfalls selbst an den Apparat lassen?
    Genua war verstopft von Autos, überall parkten mitten auf der Straße Lieferwagen, die entladen wurden, man stand vor einer grünen Ampel und kam keinen Schritt voran, Hupkonzert, es war zum Verzweifeln. Das sei montags immer so, meinte der Taxifahrer gelassen und musterte seinen unruhigen Gast im Rückspiegel. Siesta? Ja, schon, aber natürlich nicht für den Warenverkehr. Jedenfalls nicht montags. Als sie nach einer Ewigkeit vor dem Musikladen hielten, war das Geschäft noch dunkel, obwohl die Mittagspause laut Angabe der Geschäftszeiten seit zehn Minuten vorbei war. Perlmann schickte das Taxi weg. Warum hielten sich die Leute nicht an das, was geschrieben stand? Warum nicht?
    Und dann, als habe sein verzweifelter Ärger ihn endlich aufgeweckt, kam es ihm in den Sinn: Er mußte doch mindestens zwei, drei Tage einrechnen, an denen Maria seinen Text schreiben konnte. Seine bisherigen Rechnungen waren allesamt falsch. Er zog die Jacke aus und wischte sich mit dem Taschentuch über den verschwitzten Hals. In Wirklichkeit war es so: Entschied sich Silvestri für die fünfte Woche, so blieben, wenn er Maria auch den Freitag einräumen wollte, nicht mehr als zehn Tage. Und wenn sie bereit war, das Ganze am Montag und Dienstag herunterzuschreiben, so waren es dreizehn, wobei das für die Kollegen mit der Zumutung verbunden war, die Sache an einem einzigen Tag zu lesen. Trug Silvestri dagegen in der vierten Woche vor, so waren es sechzehn Tage, wieder vorausgesetzt, Maria schaffte es an zwei Tagen und machte die Kopien noch Freitag abend, bevor sie ins Wochenende ging. Zittrig zog Perlmann die Jacke wieder an und schüttelte sich angeekelt, als er spürte, wie das Hemd am Rücken klebte.
    Im Geschäft mußte er noch einmal warten, weil der Mann, mit dem Maria gesprochen hatte, zu spät kam. Unter den verwunderten Blicken des Verkäufers riß er die Schutzhülle auf und fingerte hektisch an der Doppelpackung herum, ohne sie aufzubekommen.«Ecco!»lächelte der Verkäufer, nachdem er sie mit einem einzigen, leichten Griff aufgeklappt hatte. Die zweite der beiden Platten war die richtige. Perlmann suchte die Nummer 930 heraus, ließ die Platte einlegen und setzte die Kopfhörer auf.
    Es war das Stück, das Millar gespielt hatte.
    Die Panik von vorhin war verschwunden. Aber er war enttäuscht, daß das Gefühl des Triumphs nicht stärker war. Daß es eigentlich überhaupt nicht da war. Plötzlich kam ihm die ganze Aktion völlig sinnlos vor, kindisch

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