Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Gerüche.
    Plötzlich schien ihm Leskovs Gedankengang einzustürzen wie ein Kartenhaus, und als er sich wieder ans Übersetzen machte, empfand er Ernüchterung, beinahe schon Widerwillen. Aber das verging rasch, als ihm einige elegante englische Sätze gelangen, und im Laufe dieses Nachmittags begriff er, daß es neben der Freude an der Sinnlichkeit der Sprache noch etwas ganz anderes gab, was ihn am Übersetzen unwiderstehlich anzog: Man konnte denken, ohne etwas glauben zu müssen, und man konnte sprechen, ohne etwas behaupten zu müssen. Man konnte mit der Sprache umgehen, ohne daß es einem um die Wahrheit gehen mußte. Für einen Mann ohne Meinungen, wie ich es bin, wäre Übersetzer oder Dolmetscher der ideale Beruf gewesen. Die ideale Tarnung.
    Als Perlmann das nächste Mal zu Millar und Ruge hinunterblickte, saß von Levetzov mit am Tisch. Zwischen den Papieren brannte ein Windlicht, und der Kellner ordnete das Kabel der Stehlampe, die er gerade eben hingestellt haben mußte. Millar rieb sich ab und zu fröstelnd die bloßen Unterarme, um dann mit energischen Gesten wieder das Wort zu nehmen. Jetzt schüttelte Ruge den Kopf, griff nach einem Blatt Papier und hielt es dem weiterredenden Millar mit zwei Fingern vor die Nase wie einen Durchsuchungsbefehl.
    In diesem Augenblick wußte Perlmann, daß er nie, niemals wieder, an einer Diskussion teilnehmen wollte. Er wollte nie mehr angegriffen werden und wollte nie mehr irgendeine Meinung verteidigen müssen, die genausowenig seine eigene war wie alle anderen Meinungen.
    Er fand nicht mehr in Leskovs Text hinein. Die Wörter, die er in der letzten Stunde herausgeschrieben hatte, waren in seinem Kopf wie ausgelöscht, und das Vokabelheft erschien ihm wie das Sinnbild der ewigen Schulaufgabe, mit der man ein Leben lang nicht fertig wurde. Als er dann noch zweimal hintereinander einen kyrillischen Buchstaben verwechselte, hielt er es mit sich nicht mehr aus. Er hatte gedacht, er sei auf dem Weg zu Maria, um sie nach dem schönen alten Brunnen zu fragen, vor dem er vorgestern in Genua lange gestanden hatte, bevor er in der nächsten Straße auf die Buchhandlung gestoßen war. Doch dann fand er sich im Korridor, an dessen Ende Evelyn Mistrals Zimmer lag, und nach kurzem Zögern klopfte er.
    Sie hatte ihr Zimmer richtiggehend eingerichtet. Während bei ihm oben der unausgepackte Koffer und die Plastiktüte mit der schmutzigen Wäsche unter kahlen Wänden standen und der Mantel auf dem unbenutzten Bett lag, war hier alles aufgeräumt und wohnlich. Sie hatte den zweiten Nachttisch als Ablage neben den Schreibtisch gestellt, und obwohl überall Stapel von Papier und Büchern herumlagen, wirkte es nicht unordentlich. An den Wänden hingen zwei Poster von Rom und Florenz und eine Reihe von Fotografien. Reißzwecke seien nicht erlaubt, lachte sie, aber Stecknadeln habe ihr Signora Morelli zugestanden. Sie blieb auffällig lange in der Ecke neben dem Fenster stehen, und als er den Blick dem Foto hinter ihrem Kopf zuwandte, wurde sie verlegen und hielt die Hand darüber. Es war ein Bild ihres Hundes Toto.
    «Dabei ist er schon seit einem Jahr tot», sagte sie.«Verrückt, nicht?»
    Perlmann setzte sich an den antiken Tisch mit den verschnörkelten Beinen und sah sie über den Blumenstrauß hinweg an. Wenn sie damals in der Nacht, in der riesigen Küche in Salamanca, das Problem ihres Vaters verstanden hatte, dann konnte sie auch seine jetzige Not verstehen. Trotz der silbernen Brille, die drüben auf dem Schreibtisch im Lichtkegel der Lampe auf einem aufgeschlagenen Buch lag. Er lächelte, und als er dann tief Atem holte, war es wie ein langer Anlauf zu etwas Gewagtem.
    «Ich habe dir doch neulich von Juan, meinem Bruder, erzählt», sagte sie und stand auf, um vom Nachttisch einen Brief zu holen.«Jetzt schreibt der verrückte Kerl, daß er das Studium aufgibt und zum Film geht. Kameramann will er werden! Dabei hat er nicht die Spur einer Ausbildung dafür. »Sie kniff die Augen zusammen und hielt das Blatt weit von sich weg.«Und dann diese Bemerkung hier:     «Ich beneide ihn», hörte Perlmann sich sagen, und dann noch einmal:«Ich beneide ihn sehr. »
    Verblüfft faltete sie den Brief zusammen.«Das klingt ja, als wolltest du auf der Stelle davonlaufen. »
    Lag in ihrem Lächeln die Bereitschaft, für einen derartigen Wunsch

Weitere Kostenlose Bücher