Pern 04 - Drachensinger
was ihn weckt, ist ein falscher Ton oder eine Mahlzeit. Er verläßt den Chorsaal nie, sondern verbringt die Nacht in einem winzigen Hinterzimmer – einer Art Verschlag. Treppen kann er nicht mehr steigen. Dafür ist er viel zu fett. He, du hast übrigens keine schlechte Stimme, Menolly. Irgendwie samtig.«
»Danke.«
»Bitte, bitte. Ich mag weiche Klänge«, fuhr Piemur fort, ungerührt von ihrem sarkastischen Tonfall. »Diese hohen, dünnen Kreischstimmen von Briala oder Pona gehen mir auf die Nerven.« Er warf einen Blick zur Pension hinüber. »Sag mal, wird es nicht Zeit, die Echsen zu füttern? Es gibt bald Abendessen, und die Kleinen sehen ganz eingefallen aus.«
Menolly nickte, als Prinzessin auf ihrer Schulter jämmerlich zu betteln begann.
»Ich hoffe, daß Shonagar die Echsen in unseren Chor ein-baut«, sagte Piemur und kickte einen Stein quer über den Hof.
Dann lachte er und deutete zur Küche. »Sieh mal! Camo wartet schon auf uns!«
Und das tat er wirklich, mit einer Riesenschüssel im Arm. Er hielt ein paar Fleischbrocken hoch und lockte damit die Echsen.
Onkelchen und die beiden Grünen hatten Camo eindeutig als Pfleger adoptiert. Sie nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und so merkte er gar nicht, daß Rocky, Faulpelz und Spiegel sich von Piemur verwöhnen ließen. Menolly fand, daß man das Futter weit gerechter verteilen konnte, wenn sich drei 117
Leute um die gierigen kleinen Biester kümmerten. Deshalb schlug sie Piemur vor, er solle ihr immer beim Füttern helfen –
falls er nicht Schwierigkeiten mit seinen Lehrmeistern bekam.
»Ich bin Lehrling von Meister Shonagar, und der hat sicher nichts dagegen. Ich übrigens auch nicht.« Piemur lachte und begann »seine« Echsen zu streicheln.
Sobald die Tiere satt waren, schickte Menolly Camo zurück in die Küche, Abuna beschwerte sich zwar nicht, aber Menolly merkte, daß viele Augenpaare sie durch die Küchenfenster beobachteten. Camo verschwand brav, nachdem sie ihm versprochen hatte, daß er am nächsten Morgen die Echsen wieder füttern durfte. Zufrieden flog der Schwarm auf das äußere Dach der Gildehalle und ließ sich von den Strahlen der Nachmittagssonne wärmen. Keine Sekunde zu früh, denn schon kamen die Lehrlinge in den Hof geströmt.
»Schade, daß du bei denen sitzen mußt«, meinte Piemur, als sie den Speisesaal betraten, und wies mit dem Daumen an den Mädchentisch.
»Kannst du nicht mir gegenüber Platz nehmen?« fragte Menolly hoffnungsvoll.
»Schlecht. Die lassen mich nicht mehr.«
»Nicht mehr !«
Piemur schnitt eine Grimasse und grinste dann.
»Pona hat sich bei Dunca beschwert, und die ist gleich zu Silvina gerannt …«
»Was hast du denn angestellt?«
»Ooch, nichts Besonderes.« Piemurs Achselzucken sprach Bände. »Pona ist eine alberne Wherhenne, die sich was auf ihre Herkunft einbildet und ständig ihre vornehme Verwandtschaft rausstreicht. Ein gewöhnlicher Lehrling hat in diesen Kreisen ohnehin nichts zu suchen.«
Menolly fand das schade, aber ihre Achtung vor Piemur wuchs. Als sie sich zögernd dem Tisch am Kamin zuwandte, kam ihr der Gedanke, wie sie in Zukunft ein Zusammentreffen 118
mit den Mädchen vermeiden konnte. Sie brauchte bloß zu spät zum Essen aufzutauchen und irgendwo Platz nehmen. Das gefiel ihr so, daß ihr Schritt entschlossener wurde und sie während der Mahlzeit die Feindseligkeit der Mädchen gelassen ertrug. Sie begegnete dem kühlen Klima mit ebenso kühler Gleichgültigkeit und langte tüchtig zu, als Suppe, Käse, Brot und süße Pasteten aufgetragen wurden. Als die Termine für die Abendproben bekanntgegeben wurden, erfuhr sie, daß man zur Mittagszeit des nächsten Tages mit einem Sporenregen rechnete. Alle Gildenangehörigen sollten sich in der Nähe der Halle aufhalten und vor, während und nach dem Fädeneinfall die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Menolly hörte mit heimlicher Schadenfreude das ängstliche Gewisper der Mädchen und gestattete sich ein herablassendes Lächeln. Wie konnte man sich vor Dingen fürchten, mit denen man seit seiner Geburt zu leben hatte?
Sie dachte nicht daran, den Tisch zu verlassen, als die Mädchen sich erhoben; und sie sah deutlich, daß Audiva ihr zublinzelte, als sie mit den anderen zur Tür ging. Erst nachdem die Mädchenschar verschwunden war, stand auch Menolly auf.
Vielleicht kam sie in die Hütte, ohne Dunca unter die Augen zu treten.
»Ah, Menolly, einen Augenblick bitte.« Die gutgelaunte Stimme des
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