Persilschein
auffallen. Entweder hat er etwas übersehen, oder die Aufzeichnungen waren nicht vollständig beziehungsweise präzise genug. In einem solchen Fall erfolgt eine Nachuntersuchung und die Ergebnisse werden gegebenenfalls korrigiert. Allerdings war es bisher bei Doktor Gerber nicht üblich, die Notizen zu vernichten. Sie wurden bei einem Irrtum lediglich geändert. Herausgerissen hat er die Blätter aus der Kladde noch nie.«
»Ich meine mich zu erinnern, dass Obduktionen von zwei Medizinern durchgeführt werden müssen.«
Claudia Geller war diese Frage sichtlich unangenehm. Doch sie rang sich zu einer Antwort durch. »Das ist richtig. Aber die Angelegenheit war vermutlich eilig. Deshalb hat Doktor Gerber ja allein gearbeitet.«
Goldstein rief sich die letzte Seite des Berichts ins Gedächtnis zurück. Da standen zwei Unterschriften. »Sie haben trotzdem unterzeichnet?«
»Herr Goldstein, ich …«
»Schon gut«, beruhigte er sie. »Ob Sie sich an die Vorschriften gehalten haben, interessiert mich nicht im Geringsten.«
Sie blickte ihn erleichtert an.
»Könnte ich diese Kladde sehen?«
»Natürlich. Aber Sie werden nichts von Interesse finden. Die Seiten, um die es geht, fehlen ja. Ich nehme an, Doktor Gerber wollte nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass auch er die gesetzlichen Verordnungen nicht buchstabengetreu eingehalten hat. Deshalb hat er wahrscheinlich die Notizen entfernt.«
Goldstein ließ sie in dem Glauben.
Die Ärztin durchwühlte die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, fand nach kurzem Suchen das Gewünschte und reichte es dem Hauptkommissar. »Hier. Nach Datum geordnet.«
Goldstein blätterte bis zum sechsten Oktober. Tatsächlich fehlten zwei Seiten. Er legte die Kladde zurück auf den Sekretär. »Sobald ein Obduktionsbericht unterschrieben und damit offiziell ist, wer bekommt ihn als Erster?«
»Die mit dem Fall betraute Dienststelle.«
»Also der ermittelnde Polizeibeamte?«
»Nicht unbedingt. Eigentlich die zuständige Dienststelle. Wenn Sie das genau wissen wollen …«
Goldstein wollte.
Doktor Geller griff zum Telefonhörer und führte ein Telefonat. Als sie geendete hatte, meinte sie: »Das ist wirklich merkwürdig. Es gab zwei Berichte. Einer wurde von Doktor Gerber selbst getippt, das hat mir unsere Sekretärin bestätigt. Sie war an diesem Tag krank, hat aber den Eintrag über den Ausgang des Schreibens im Postbuch gesehen. Einen Tag später kam Doktor Gerber zu ihr und bat sie, die Ausarbeitung erneut zu tippen. Sie sei auf dem Postweg verloren gegangen. Das ist der Vorgang, den ich mit unterschrieben habe.«
»Und an wen sind diese Dokumentationen gegangen?«
»Beide an Kriminalrat Saborski.«
Das hatte Goldstein befürchtet. »Eine Frage habe ich noch: Wann kommt Doktor Gerber zurück?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Er hat um seine Versetzungen in den vorzeitigen Ruhestand nachgesucht. Ich dachte, das wüssten Sie.«
50
Dienstag, 17. Oktober 1950
Es schellte, als die Familie bei Kaffee und Kuchen saß.
Lisbeth Goldstein schob ihren Stuhl nach hinten und stand auf. »Wer das wohl sein mag?«
Vor der Tür wartete Marianne Berger.
»Komm rein«, meinte Lisbeth und trat beiseite. »Trink eine Tasse Kaffee mit uns.«
Ihre Freundin schüttelte nur ungeduldig den Kopf. »Nee, lass. Hast du einen Moment Zeit? Ich möchte dir etwas erzählen.«
»Wo? Hier im Türrahmen?«
»Natürlich nicht. Können wir auf einen Sprung zu mir gehen? Ich möchte mit dir alleine sprechen.« Sie schaute Lisbeth bittend an.
»Na, das muss ja ein großes Geheimnis sein. Aber gut. Ich sage nur eben Peter Bescheid, dass ich fortgehe und er den Abwasch zu erledigen hat.«
»Ist er denn zu Hause?«
»Ja. Er hat Urlaub. Noch bis übermorgen.«
Kurz darauf schlenderten die beiden Frauen zu Marianne Bergers Wohnung. Schon auf dem Weg dorthin versuchte Lisbeth, die Freundin auszuquetschen, biss jedoch auf Granit.
»Warte, bis wir bei mir sind. Dort erfährst du alles.«
In ihrem Haus angekommen, gingen sie direkt in das Wohnzimmer, wo ein bereits gedeckter Tisch sie empfing, mit Kuchen, Gebäck und einer Flasche Likör. Herbstblumen schmückten das Ensemble.
»Du hast dir ja richtig Mühe gegeben. Jetzt bin ich aber wirklich gespannt wie ein Flitzebogen.«
»Ich setze eben den Kaffee auf«, antwortete Marianne. »Dann quatschen wir.«
Kurz darauf saßen sich die beiden gegenüber.
»Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Also …« Unvermittelt platzte es aus ihr heraus.
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