Persilschein
Gentleman!
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Paul Krönert blickte fragend auf einen der freien Stühle an ihrem Tisch.
»Es wäre mir ein Vergnügen.« Sie strahlte ihn an. Der Abend versprach nun doch noch richtig nett zu werden.
49
Dienstag, 17. Oktober 1950
Wie bei jedem seiner Besuche in der Gerichtsmedizin verspürte er Unbehagen. Die endlos langen, hell gekachelten Flure. Die weißen Türen, hinter denen auf Stahltischen Leichen obduziert wurden. Die Deckenleuchten, die alles in grelles Licht tauchten. Die heruntergekühlten Räume, in welchen die Leichen in großen, wie übereinandergestapelten Schubladen auf ihre Einäscherung warteten. Und schließlich der ekelhaft süße Geruch des Formaldehyds, der den Gestank des Todes überlagerte.
Endlich hatte er den Raum mit der Nummer dreiundzwanzig erreicht. Er klopfte und trat ein.
Befreit atmete er auf. Ihn erwartete ein normales Büro, kein Labor. Nirgendwo standen Gläser mit menschlichen Organen, keine Skelettteile waren ausgestellt. Nach Desinfektionsmittel roch es allerdings auch.
»Guten Tag, Herr Goldstein«, begrüßte ihn Doktor Geller, eine blonde Endvierzigerin mit kurzen Haaren. »Sie sehen so erleichtert aus.«
Goldstein schmunzelte. »Ich hatte mit etwas anderem gerechnet. Einer Art medizinischer Folterkammer.«
Claudia Geller lachte auf. »Wie bei Doktor Frankenstein?«
»So ähnlich.«
»Da muss ich Sie leider enttäuschen«, grinste sie breit. »Was führt Sie zu mir?«
»Doktor Gerber. Genau genommen der Bericht, den er über Wolfgang Müller verfasst hat.«
»Müller? Wer ist das?«
Goldstein erinnerte sich, dass Ärzte häufig nicht die Namen ihrer Patienten, sondern nur die Krankheit, unter denen diese litten, im Gedächtnis behielten. Obwohl sich Gerichtsmediziner mit Menschen beschäftigten, die in aller Regel bereits das Zeitliche gesegnet hatten, unterschieden sie sich in diesem Punkt sicher nicht von ihren Kollegen.
»Schussverletzung aus nächster Nähe«, schob er schnell nach. »In die rechte Schläfe. Vor nicht ganz zwei Wochen.«
»Ach ja. Um die vierzig, schlank?«
»Das ist er.«
Sie stand auf, ging zu einem Aktenschrank, der fast eine ganze Wand des Raumes einnahm und zog eine Schublade hervor. L bis N war in großen Buchstaben auf dem Fach zu lesen.
Claudia Geller schnippte mit dem Zeigefinger die einzelnen Akten der Hängeregistratur weiter und murmelte dabei leise Namen: »Mandel, Meier, Moller, Müller Hermann … Müller Walther … Müller Wolfgang. Hier haben wir ihn ja.« Sie nahm den Hefter zur Hand und begann darin zu blättern. »Ja. Aufgesetzter Schuss. Selbstmord. Was interessiert Sie daran?« Sie reichte ihm die Mappe.
»Nicht der offizielle Bericht. Den kenne ich bereits. Ich meine …« Er stockte. Wie sollte er der Assistentin erklären, dass ihr Vorgesetzter möglicherweise ein Obduktionsergebnis gefälscht hatte?
»Sie meinen, ob Doktor Gerber seine Auffassung bezüglich der Todesursache dieses Müller geändert haben könnte?«
Goldstein sah sie verblüfft an.
Sie lachte wieder. »Nun gucken Sie nicht so erstaunt. Der Chef und ich haben eng zusammengearbeitet. An dem Tag, als die Leiche eingeliefert wurde, hatte ich Urlaub. Doktor Gerber hat deshalb die Leichenschau ohne Unterstützung durchgeführt. Üblicherweise assistiere ich und halte seine Untersuchungsergebnisse stichwortartig in einem Notizbuch fest. Später diktiere ich anhand dieser Aufzeichnungen einen ersten, vorläufigen Bericht und lege ihn Doktor Gerber vor, der ihn überarbeitet. Danach wird er abgetippt und unterzeichnet. In diesem Fall hat mein Chef allein gearbeitet. Das sollte nicht sein, kommt aber schon einmal vor. Er erstellt die Einträge dann selbst, benutzt aber die übliche Kladde. Das scheint er auch hier getan zu haben. Nur fehlen die Ursprungsnotizen in dem Heft. Sie wurden herausgerissen. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand. Die endgültige Darstellung unterschied sich von den Notizen, die bei der Obduktion angefertigt wurden. Mein Vorgesetzter wollte nicht, dass es darüber zu Missverständnissen kommt. Relevant ist ohnehin nur der offizielle Obduktionsbericht. Bevor Sie jetzt die falschen Schlüsse ziehen: Ungewöhnlich ist dieser Vorgang keineswegs. Zumindest nicht grundsätzlich.«
»Wie habe ich das zu verstehen?«
»Sehen Sie, es passiert immer wieder, dass dem obduzierenden Arzt bei Abfassen des Berichtes Ungenauigkeiten in der Obduktionsmitschrift
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