Perth
England kamen, hatte ich daher das seltsame freudige Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. Alles in diesem Land erschien mir natürlich und vertraut zu sein.
Unsere erste Zeit in London wurde abgesehen von meiner literarischen Welt in der British Library zu einem Alptraum. Eines Morgens brachte uns die Wirtin der schmuddeligen Frühstückspension nördlich von London — wir schliefen zum ersten Mal in unserem Leben auf Nylonlaken — einen Brief aus Vermont herauf, der gerade angekommen war. Der Brief verdarb uns den Sommer. Er war von Mrs. Roy. Sie schrieb:
Wir haben Perth ein paar Tage behalten, aber sie war offensichtlich unglücklich, da sie immer wieder nach den Mädchen schnappte. Niemand wurde wirklich gebissen, aber es war klar, dass wir sie nicht länger behalten konnten. Es war einfach zu gefährlich. Ich habe sie zu einer fünfzehn Kilometer entfernten Farm gebracht. Der vierzehnjährige Sohn des Farmers erklärte sich bereit, sie zu betreuen, zu füttern und so weiter. Ich sagte ihm, dass Sie ihn bei Ihrer Rückkehr bezahlen würden. Ihr Hund war einige Tage bei ihm, aber vor zwei Tagen rief er mich an und erzählte mir, dass er weggelaufen sei. Sie haben mehrere Stunden nach ihm gesucht, aber es gibt keine Spur von ihm. Sie werden sicher verstehen, dass sie nicht weiter nach ihm suchen können. Sie sind auf der Farm sehr eingespannt und haben wichtigere Dinge zu tun. Der Junge, Jonas, sagte mir, dass der Hund von Anfang an versucht hatte, ihn zu beißen. Daher musste er ihn an eine Eisenkette in einer alten Scheune anhängen. Er hatte so viel Angst vor ihm, dass er immer Lederhandschuhe anzog, wenn er ihm einmal täglich sein Futter brachte. Von Tag zu Tag wurde der Hund böser. Ich verstehe nicht, dass ein so kleiner Hund einem so großen Jungen so viel Angst einjagen kann. Ich wollte Ihnen das so früh wie möglich mit-teilen . Es tut mir Leid, dass ich so schlechte Nachrichten für Sie habe, aber ich war auch zu beschäftigt, um nach dem Hund zu suchen. Ich hoffe, Sie haben eine gute Zeit in England.
Mit freundlichen Grüßen
Agnes Roy
Es lief uns kalt den Rücken hinunter, als wir das lasen. Ein schreckliches Gefühl des Verlusts, der Hilflosigkeit und der Grausamkeit überkam uns. Cindy begann zu weinen.
Dann stieg eine große Wut in mir auf. Ich war auf irrationale Weise wütend auf Mrs. Roy, da sie Perth einfach in die Obhut eines vierzehnjährigen Jungen gegeben hatte, den wir überhaupt nicht kannten. Ich war auch unfairerweise bitterböse auf den Jungen, der, so schien es mir, wahrscheinlich keine Ahnung hatte, wie man sich um einen Hund kümmert, und Perth grausam behandelte. Aber vor allem war ich wütend auf mich selbst. Irgendwie musste ich Mrs. Roy das Gefühl gegeben haben, dass Perth uns nicht so wichtig war, dass es für uns ganz in Ordnung war, sie für ein paar Monate abzuschieben, damit wir unseren Urlaub in England genießen konnten. Vielleicht hatte sie deshalb das Gefühl, dass sie Perth ohne weiteres an irgendwelche Farmer abgeben konnte.
Das Unverzeihlichste, was ich uns selbst und Perth angetan hatte, war wahrscheinlich, dass ich Mrs. Roy nicht gesagt hatte, dass Perth schon einmal Leute gebissen hatte. Ich hatte große Schuldgefühle deswegen, wenn ich es mir in diesem Moment auch nicht eingestehen konnte. Als wir in dem Ferienlager waren, standen wir mit dem Rücken zur Wand. Wir hatten keine Zeit mehr und mussten etwas tun. Wenn ich Mrs. Roy gesagt hätte, dass Perth andere Menschen in die Nase gezwickt hatte, hätte sie sie nie genommen. Aber ich dachte, dass Perth damals nur deshalb geschnappt hatte, weil Ohio sie deprimierte. Ich war überzeugt davon, dass sie auf einem Berg in Vermont ausgeglichener sein und ihr wahrer Charakter wieder durchkommen würde. Ich hatte verdrängt, dass Perth Horden von kichernden und schreienden Mädchen ertragen musste. Das Camp war friedlich, als wir dort waren. Als die Mädchen kamen, war es mit der Ruhe sicherlich vorbei gewesen. Perth musste entsetzt gewesen sein und konnte sich wohl nicht mehr kontrollieren. An ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich auch nach den Mädchen geschnappt.
Meine Reue und meine Schuldgefühle wurden so stark, dass mir die Tränen kamen, als ich daran dachte, wie grausam ich selbst in den letzten Minuten gewesen war, die wir mit Perth verbracht hatten. Ich fühlte mich wie jemand, der es versäumt, einem geliebten Menschen zu sagen, wie sehr er ihn liebt, bis es zu spät ist. Kein Wunder,
Weitere Kostenlose Bücher