Pesch, Helmut W.
die mit Krallen ineinander griffen, ein ständiges Werden und Wandeln.
Man hatte das Gefühl, nicht einem künstlich geschaffenen Werk gegenüberzutreten, sondern etwas Gewachsenem, das behutsam in eine Form gebracht worden war, die es sich immer ersehnt hatte.
Doch als Siggi näher kam, erwies sich das vermeintliche Schnitz-werk als harter, behauener Stein, in dem nur die verschiedenen Farben und Schichten eine holzähnliche Maserung vortäuschten. Allein der Gedanke, wie viele Arbeitsstunden nötig gewesen sein mochten, aus diesem harten Material solche Formen herauszumei-
ßeln, ließ ihn schlucken.
»Das müsste Vati sehen«, meinte er unwillkürlich. »So was zu bauen, das wäre sein Traum.«
»Das ist keine Höhlenarchitektur«, warf Gunhild leise ein, die hinter ihm stand. »Das sind Pflanzen und Tiere aus der Welt, aus der wir kommen.«
Laurion warf ihr einen überraschten Blick zu, verwundert über so viel Feinfühligkeit.
»Ihr müsst die Welt des Lichtes sehr lieben, um so etwas zu schaffen«, fuhr sie fort.
»Auch wir wohnten einst auf den Höhen«, sagte der Lios-alf nur, führte den Gedanken aber nicht weiter. Auch der Graue sagte nichts, doch sein Gesicht wirkte noch abweisender als sonst, als sehe er ein ganz anderes Bild vor seinem geschlossenen Auge.
Laurion führte sie in die Halle des Hauses, das einzige Zimmer im Inneren des Gebäudes. Die Mitte des Raumes bildete ein lang gezogener Herd; an den Wänden hingen Waffen und Geräte, und im hinteren Teil erkannte man eine Lagerstatt und verschiedene Dinge des persönlichen Bedarfs, Bücher, Vorratsgefäße, Truhen, die vermutlich Kleidung oder Ähnliches enthielten. An der Stirnwand der Halle, wo man einen Thronsitz vermutet hätte, plätscherte kris-tallklares Wasser in einen steingefassten Brunnen.
»Ihr müsst hungrig sein«, sagte Laurion, als sie auf einer niedrigen Bank an einem steinernen Tisch Platz genommen hatten, und brachte ihnen zu essen und zu trinken. Dann ließ er sie allein in der Obhut des Grauen zurück.
Erst jetzt bemerkten die Kinder, dass sie wirklich einen Wolfshun-ger hatten. Sie langten kräftig zu. Das dunkle Brot, das ihnen Laurion zusammen mit Butter und Käse gebracht hatte schmeckte süß, wie nach Honig. Dazu tranken sie frisches Quellwasser, und es schmeckte ihnen besser als alles, was sie jemals gegessen und getrunken hatten.
»Butter und Käse?«, fragte Siggi plötzlich. »Woher die wohl kommen?«
»Es gibt anscheinend Kühe hier«, mutmaßte Gunhild, als von dem Alten keine Auskunft kam.
»Wahrscheinlich die Kinder der Urkuh«, grinste Siggi. »Das müssen komische Viecher sein.«
»Es war eine Ziege«, belehrte ihn Gunhild.
Siggi beäugte misstrauisch das Essen.
Der Graue ging unruhig im Zimmer auf und ab. Siggi blickte kurz zu ihm auf, und er konnte sehen, wie es unter der ledrigen Haut seines toten Auges zuckte. Der Alte musste entsetzlich aufgeregt sein; er konnte nicht still stehen. Man spürte förmlich, wie es in ihm arbeitete.
Der brütet etwas aus, dachte Siggi bei sich, als sich die Tür öffnete und Laurion eintrat.
»Ich habe mit der Königin gesprochen. Wir werden einen Trupp unserer besten Männer zusammenstellen, die mit mir zusammen versuchen werden, euren Freund zu befreien.«
»Müssen wir …«, stammelte Siggi, »ich meine, dürfen wir …?«
»Natürlich kommt ihr mit. Nur ihr könnt euren Freund überzeugen, uns zu folgen, wenn wir ihn finden.«
»Genau«, pflichtete Gunhild ihm bei.
»Dann kommt mit. Wir gehen in die Rüstkammer. Dort treffen wir die anderen«, sagte Laurion knapp.
Er führte sie durch das verwirrende Labyrinth der engen Gassen der Stadt, und Siggi und Gunhild konnten sich nicht satt sehen an dem, was die Lichtalben hier geschaffen hatten. Überall gab es Bild-werke und feine Ziselierungen, die mit großer Kunstfertigkeit her-gestellt waren und für das Schönheitsempfinden der Lios-alfar sprachen.
Sie bemerkten die Unruhe in der Stadt. Immer wieder begegneten sie Leuten, die umherhasteten.
»Was ist los?«, fragte Siggi schließlich.
»Wir rüsten zur Schlacht«, erklärte Laurion. »Die Höhlen hallen von den Kriegshörnern der Dunklen Brut wieder.«
»Aber wir …«
»Wir werden uns aus einer anderen Richtung heranschleichen und so die Auseinandersetzung meiden«, schnitt Laurion ihm das Wort ab. »Unsere Aufgabe ist wichtig, und da kann uns eine Schlacht eher helfen als schaden. Eine Schlacht lenkt viele Leute ab, und so können wir uns
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