Pesch, Helmut W.
reichte eine Wasserflasche herum, und jeder, auch der Graue, nahm einen Schluck.
Siggi beobachtete den Alten immer wieder. Mochte er auf den ersten Blick auch ruhig erscheinen, aber das Zucken seines toten Auges war ein eindeutiger Hinweis, dass der Graue irgendetwas im Sinne hatte. Er benahm sich immer merkwürdiger, seit er diese seltsame Geschichte erzählt hatte.
»Was sucht ihr im Herzen des Verborgenen Reiches«, erklang eine sanfte Stimme hinter ihnen. Siggi griff, ohne nachzudenken, nach dem Hammer, aber Laurions Hand legte sich auf die seine.
Siggi wandte sich um. Was er sah, war eine schmächtige, doch be-zaubernd schöne Frau, die hinter dem Kristall hervorgekommen war. Sei trug ein silbernes Gewand mit blauen Borten und weißem Besatz. Das lange blonde Haar fiel ihr bis auf die Hüften herab.
Ihre himmelblauen Augen musterten jeden aus der Gruppe – und Siggi hatte das Gefühl, sie sah sich alle zur gleichen Zeit an. Sie war hochgewachsen und etwas größer als Gunhild.
Sie lächelte jeden der Reihe nach an und nickte ihm zu. Und als ihr Blick ihn traf, war Siggi, als berührte etwas sein Herz.
»Herrin«, begrüßte Laurion die Königin und neigte den Kopf.
Siggi tat es ihm gleich und Gunhild knickste.
»Sei gegrüßt, Wanderer«, sagte die Königin zu dem Alten.
Der Graue nickte nur, sagte aber nichts.
»Gunhild, komm zu mir«, sagte die Königin unvermittelt. »Ich habe euch nur herkommen lassen, um dir ein Geschenk zu machen.«
Zögernd trat das Mädchen näher.
»Warum so zaghaft? Mir wurde berichtet, du seist ein forsches Kind«, sagte die Verborgene Königin aufmunternd zu Gunhild.
Gunhild zögerte nicht länger, sondern schritt energisch aus.
»Und jetzt neige deinen Kopf zu mir«, bat die Königin.
Kaum hatte Gunhild sich vorgebeugt, da fühlte sie etwas Kühles auf der Haut. Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie ein Gewicht um ihren Hals, und etwas berührte ihre Haut, kühl, aber nicht un-angenehm.
Sie sah an sich hinunter, und für den Bruchteil eines Augenblicks schwindelte ihr. Sie hatte das Gefühl, als wäre die Zeit plötzlich erstarrt und alles um sie herum in der Bewegung eingefroren. Doch das Gefühl verging im selben Lidschlag, in dem es gekommen war.
Ihr Blick fiel auf ein wunderbares Geschmeide, das sich an ihre Brust schmiegte. Es war eine Kette aus neun goldenen Reifen, von denen jeder einen eigenen Edelstein trug, welche in allen Farben des Regenbogens glitzerten. Die Ringe selbst waren mit winzigen Golddrähten umwickelt, die wiederum aufgesetzte Noppen aus Gold trugen. Kleine, eingefügte Plättchen, geschmückt mit kunstvol verschlungenen Knoten in Form von Vögeln oder anderen Tieren, füllten die Zwischenräume. Die Arbeit war so unendlich fein, dass man sich in der Betrachtung verlieren konnte, wirkte fast zer-brechlich, aber, das konnte Gunhild schon erkennen, war doch fest und stark. Es war ein unglaublich schönes Schmuckstück.
»Oh«, entfuhr es ihr. »Womit habe ich das verdient?«
»Du brauchst es dir nicht zu verdienen; ich will, dass du es trägst.
Es ist stärker als die mächtigsten Waffen.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Gunhild, die ihren Blick nicht von ihrem Halsschmuck wenden konnte.
»Du wirst es herausfinden … eines Tages … vielleicht bald«, entgegnete die Königin nur.
»Woher stammt der Schmuck?«, wollte Siggi wissen.
»Er ist Teil eines Lohnes, der nicht gezahlt wurde«, antwortete die Königin. »Ich glaube«, sagte sie mehr zu sich selbst, »ihr solltet von dieser Geschichte erfahren.«
Gunhild und Siggi wandten sich automatisch dem Grauen zu, doch dieser machte keine Anstalten, etwas zu erzählen, sondern trat vielmehr einen Schritt zurück in die Schatten, dass sein Gesicht unter dem breitkrempigen Hut nun ganz im Dunkeln lag. Nur das heile Auge blinkte im Widerschein des Goldes.
»Ich sehe, der Einäugige hat euch bereits von den alten Zeiten berichtet«, ergriff die Königin wieder das Wort. »So wisst ihr viel eicht schon von Mimirs Quell, der sich bis in den Urgrund des Riesen-reiches erstreckt und an dessen Grund die Erde Gold gebiert.«
Die Kinder nickten.
»Am Golde scheiden sich die Geister. An ihm hängt Fluch und Segen. Menschen töten für Gold. Aber sein Glanz bannt auch Riesen und Asen und alle, die Yggdrasils Welten bevölkern. Hierher kam Alberich, Herr von Nibelheim, König der Swart-alfar, auf der Suche nach den Töchtern Erdas, die den Schatz bewachen. Er suchte kein Gold, nur eine Frau,
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