Pesch, Helmut W.
seine Wortwahl. Fast war es ihm, als unterhielte sich die Stimme mit sich selbst, aber ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Du weißt doch, wie es Hagen mit dem Drachentöter gemacht hat.« Ein seltsamer Unterton, den Hagen nicht deuten konnte, schien für einen Moment durchzuklingen, aber dann kehrte der süße Klang in die Stimme zurück. »Er hat die verwundbare Stelle gefunden, und die war im Rücken. Stoß ihm Siegvaters Runenspeer in den Rücken. Wiederhole die hehre Tat deines Namensvetters; denn er hat Midgard einst von einem Mann befreit, der mit gleicher Feigheit handelte wie dieser Siegfried hier und jetzt.«
Die Stimme war eindringlich, und zusammen mit ihren Worten stiegen in Hagen nochmals die Bilder auf, wie Siggi und seine Schwester ihn immer wieder gedemütigt, seinen Stolz und seine Ehre verletzt hatten. Das Verweigern der Hilfe am Brunnen, der Diebstahl des Ringes und zu guter Letzt die Augenblicke in Muspelheim.
Die Resignation wich; der Zorn, der Wunsch nach Rache wuchs, die Sehnsucht, es dem verhassten Feind ein für alle Male zu zeigen.
»In den Rücken musst du ihm den Speer stoßen, denn dann kann sein Blick in dir keine Zweifel entfachen«, drang die Stimme wieder auf Hagen ein. »Er wird dich nie und nimmer mit einer Waffe in der Hand bezwingen; aber mit seiner Falschheit und Tücke wird es ihm immer wieder gelingen, dich zum Narren zu machen, dich zu demütigen und dich zu besiegen. Die Bande, die er mit seinen Augen schlägt, lähmen dich, Hagen. Stoß ihm in den Rücken, auf dass sein Blick dich nicht fesseln kann.«
Hagen nickte. Nur so konnte es gehen; nur so erreichte er sein Ziel.
»Alberich wird dich in Ehren aufnehmen, wird dir deinen Rang wiedergeben und dich Sohn nennen, wenn du ihm den Ring des Nibelungen bringst«, flüsterte die Stimme, aber Hagen war, als schrie sie ihm ins Ohr. »Deine Rache wäre vollkommen. Jetzt, wo Siegfried denkt, er hätte dich bezwungen, ein Nichts aus dir gemacht, dich entehrt, wirst du ihn töten.«
»In den Rücken …«, kam es über Hagens bebende Lippen.
»Ja«, flüsterte die Stimme. »Ja, es ist ganz einfach …«
»Wo finde ich ihn?«, fragte Hagen. »Er ist doch unsichtbar.«
»Es ist nicht mehr weit«, wurde ihm geantwortet. »Du wirst ihn bald sehen.«
Erst jetzt bemerkte Hagen, dass er immer weiter gegangen war, während die Stimme zu ihm gesprochen hatte. Er wusste zwar nicht, wo er sich befand, aber sein unsichtbarer Gesprächspartner leitete seine Schritte sicher durch die Gänge, Stollen und Hallen.
»Was ist das für ein Lärm?«, fragte Hagen, als er den Widerhal eines Horns und das Schlagen von Metall auf Metall hörte, gemischt mit unverständlichen Schreien und Rufen.
»Der Krieg ist da, und der Tod hält reichliche Ernte«, erfuhr Hagen. »Was du hörst, ist eine der Melodien des Sterbens. Es gibt viele. Manchmal schläft man ein und wacht nicht mehr auf, das klingt leise und friedlich, fast anmutig. Aber was du hier hörst, ist hundertfacher Tod, Schwerter graben sich tief ins Fleisch, Schmer-zensschreie und Kampfesrufe sind kaum zu unterscheiden. Es ist ein dreckiges Sterben«, die Stimme machte eine kurze Pause, »denn in der Hitze des Gefechts wird kaum ein Hieb sauber geführt. Oft liegen die Körper minutenlang zuckend herum, winden sich, kaum bei Bewusstsein, in ihren Schmerzen. Du hingegen, Hagen, wirst sauber töten. Ein einziger, wohl überlegter, gezielter Stoß ins Herz.«
Die Melodie des Todes gellte Hagen in den Ohren, und er konnte wirklich nicht zwischen den Schlachtrufen und Todesschreien unterscheiden. Vielfach gebrochen erreichten die Echos der Schlacht sein Ohr, und er meinte, sie riefen seinen Namen und for-derten seine Tat.
»Wer wird am Ende gewinnen?«, fragte Hagen; denn er glaubte, sein unsichtbarer Begleiter wisse alles.
»Das hängt von dir ab. Tötest du den, der den Namen des Drachentöters trägt, dann wird das Geschick sich zugunsten des Nibelungen wenden«, war die Antwort. »Du rettest Leben und gewinnst die Schlacht.«
»Dann werde ich Alberich den Sieg bringen«, stieß Hagen hervor,
»damit ich ihn wieder Vater nennen darf!«
»Aber«, flüsterte es von den Wänden, »du musst aus freien Stü-
cken handeln …«
»Wo ist Siegfried? Wo finde ich ihn?« Hagen wollte das vollenden, was er in Muspelheim begonnen hatte.
»Nicht weit von hier …«, kam es zurück. »Folge dem Gang. Dort, wo du die Quelle findest, da ist dein Feind!«
»Danke«, sagte Hagen, aber er
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