Pesch, Helmut W.
sich die Krieger der Schwarzalben auf Laurion und überwältigten ihn. Odin packte mich am Arm, und schleppte mich mit sich. Ich wehrte mich, aber der Alte war stärker.«
Siggi packte Mjölnir fester, während Gunhild erzählte. Der Zorn, den er schon bezwungen glaubte, erwachte wieder. Es drängte ihn danach, Odin den Hammer in die machtgierige Visage zu schlagen, um ihn mit seinem Mal zu zeichnen.
»Ich wehrte mich jedoch weiter«, fuhr Gunhild fort. »›Viel Macht ist mir nicht geblieben, aber das Wenige, das ich vollbringen kann, werde ich noch tun, widerspenstiges Midgard-Kind‹, sagte Odin zu mir. Dann öffnete er sein rechtes Auge – das, welches er immer geschlossen hat, weißt du. Es ist nicht tot. Was ich darin gesehen ha-be …« Sie schauderte, und Siggi hatte das Gefühl, als blicke seine Schwester in einen Abgrund, der ihm verborgen blieb. »Ich kann darüber nicht reden. Aber mit jedem Augenblick, den ich diesen Blick ertrug, hatte ich das Gefühl, einen Teil meines Willens zu verlieren. Und als ich völlig in seinem Bann war, schleifte er mich hierher.«
Siggi hielt sie einen Moment fest im Arm; dann sah er sich aufmerksam um, lauschte, und als er sicher war, dass niemand mehr in der Nähe von Muspelheims Feuern war, streifte er den Ring ab.
Keiner, weder Mensch, Albe noch Gott, war da, um zu sehen, wie aus dem Nichts die Gestalten der beiden Kinder erschienen, die in einer einzigen Nacht mehr an Wunderbarem geschaut hatten als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Ihnen war ein Blick hinter die Schleier der Wirklichkeit vergönnt gewesen, ein Blick in eine fremde Welt, die voller Schönheit war, aber auch voller Schrecken. Und in einer Beziehung schien sie sich gar nicht so sehr von ihrer eigenen zu unterscheiden, denn auch hier gab es Hass, Hab-gier, Zorn und Gewalt.
»Wir sollten Laurion bestatten«, sagte Gunhild leise. »Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen.«
In seinem früheren Leben hätte Siggi bei dem Gedanken, einen Toten überhaupt nur zu berühren, das kalte Grausen gepackt, und er hätte sich irgendwo verkrochen. Aber nach den Erlebnissen der letzen Stunden erschien es ihm nur recht und angemessen.
»Aber dann nicht nur Laurion, sondern auch Mîm«, sagte er.
»Den Schwarzalben, der mit ihm gefallen ist, meine ich. Ich glaube, er war Hagens Freund.«
»Und die anderen auch«, fügte Gunhild hinzu.
»Aber wie? Wir können doch mit den Händen kein Loch in den Fels graben.« Siggi sah sich um.
»Übergeben wir sie dem Feuer«, gab seine Schwester zur Antwort.
Siggi schob Mjölnir in den Gürtel, und gemeinsam machten sich die Kinder an die Arbeit. Zuerst trugen sie alle Gefallenen an das Ufer des Lavasees. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, als sie endlich damit fertig waren. Doch nun kam der schlimmere Teil. Es war an der Zeit, den ersten der Toten dem See zu übergeben.
In Siggis Fantasie stiegen plötzlich Bilder aus Horrorfilmen auf, die er gesehen hatte, obwohl – oder gerade weil – es sein Vater ver-boten hatte. Und einmal hatte er gerochen, wie verbranntes Fleisch und Haare stanken. Bei dem Gedanken wurde ihm nun doch mulmig zumute, und auch Gunhild schien zu ahnen, was ihnen da be-vorstand.
Trotzdem packten die beiden wortlos den Swart-alf an und schoben ihn über den Rand in die Feuer Muspelheims. Aber der Schock blieb aus. Der Leichnam verging lautlos in der Lava, ver-puffte einfach in einem Aufflackern der Glut. Es war fast, als würde der Körper des Schwarzalben unsichtbar werden. Er verging ins Nichts … Und so überließen die Geschwister die Toten einen nach dem anderen den Flammen.
Als sie bei Mîm angelangt waren, verneigte sich Siggi kurz für Hagen, den Freund, der von Alberich verstoßen irgendwo durch die Gänge irrte.
Zuletzt lag noch Laurion vor ihnen. Das ihnen vertraut gewordene Gesicht war im Tode entspannt, und es schien fast so, als würde er schlafen. Nur sprach die schreckliche Wunde eine andere Sprache. Laurion war tot; gefallen im Kampf, um sie zu retten. Siggi beugte sich zu ihm herunter. Er wollte die Wasserflasche an sich nehmen, aber der Zauber der Königin war gebrochen. Ein Schwerthieb musste die Flasche getroffen haben. Das Wasser war ausgelau-fen.
Siggi und Gunhild schämten sich ihrer Tränen nicht. Beide beteten stumm, obwohl ihnen durchaus bewusst war, dass der Gott, zu dem sie beteten, nicht hierher gehörte. Aber sie waren der festen Überzeugung, ihre Fürbitte würde nicht vergebens sein.
So
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