Pesch, Helmut W.
erhielt keine Antwort.
Danke mir nicht. Die Stimme verblasste. Tu nur, was du willst…
»Ich will!«
Vor ihm begann sich der Gang zu erweitern. Das Wesen, dass sein letzter Freund war, musste während des Zwiegesprächs seine Schritte gelenkt haben. Hagen selbst hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Für ihn war es wie ein Erwachen, ein wunderbares Aufwachen aus einem Schlaf, der alle seine Niederlagen und die Demütigungen in neue Kraft für einen neuen Kampf verwandelt hatte. Nun würde es Siggi sein, der eine Niederlage hinnehmen musste. Seine erste und zugleich letzte. Hagen würde nicht zulassen, dass Siggi allein durch seine Anwesenheit die Swart-alfar in ihr Verderben riss.
Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er atmete flach durch den Mund und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden, das sein ahnungsloses Opfer auf ihn hätte aufmerksam machen können.
Das Erste, was er hörte, war das Plätschern von Wasser. Doch sein Blick wurde gefesselt von einem Farbenspiel, das vor ihm um die Biegung des Ganges drang.
Er spähte um die Ecke. Er stand am Eingang zu einer Grotte, die erfüllt war von Kristallen, welche das fahle Licht auf vielfältige Weise brachen. Es war wie ein Stein gewordener Regenbogen.
Diese Grotte wird Bifrösts Wurzel genannt, klang es in Hagen auf. Ein wahrhaft königlicher Ort für die Entscheidung zwischen dem Erben der Nibelungen und dem Erben der Asen. Aber lass dich nicht vom Zauber der Grotte, gefangen nehmen, Hagen. Du musst deine Aufgabe erfüllen.
Hagen versuchte die Faszination des Lichts zu verdrängen. Vorsichtig spähte er tiefer in die Grotte hinein. Und in der Tat, da stand er, der blonde Neiding, der ihm so zugesetzt hatte.
Hagen schlich in die Grotte, den Runenspeer fest umklammert.
Diesmal durfte es kein Versagen geben. Langsam näherte er sich.
Und wie unachtsam der Kleine war! Er plapperte mit seiner Schwester und achtete nicht auf seine Umgebung.
Nur noch fünf Schritte, dann war er nahe genug heran.
Siggi bückte sich, um aus einer Quelle zu trinken, die im Zentrum der Grotte entsprang. Beide wandten ihm den Rücken zu.
Das war seine Chance. Nur noch drei Schritte. Noch zwei, noch einer.
Hagen hob den Speer. In diesem Augenblick wandte Gunhild sich um … doch es war nicht Gunhild.
Das Halsband der Verborgenen Königin erstrahlte auf ihrer Brust.
Die Juwelen der neun Welten Yggdrasils, welche vor Urzeiten die kundige Hand der Zwerge darin eingefügt hatte, schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Sie woben ein Netz aus Licht, in dem die Gestalt des Mädchens erhöht wurde zu etwas Übermenschli-chem, etwas unbeschreiblich Schönem, vor dessen Bild nur eines möglich war: sich niederzuwerfen, um ihr sein Herz darzubringen und sie anzubeten.
In der Grotte Bifrösts, an der Wurzel der Regenbogenbrücke, die einst zu den hohen Hallen Asgards emporgeführt hatte, stand Freya, die Herrin der Liebe, in ihrem göttlichen Glanz.
»Komm heraus, Loki!«, sagte sie.
Ein Schatten löste sich aus den Wänden.
Er war das genaue Gegenteil von allem, für das Freya stand. In seinen dunklen Zügen war etwas von Alberich zu finden, aber auch von Hagen, von dem Neid, dem Hass und der Ungerechtigkeit, die immer Zwietracht unter den Völkern säen.
Auch ihn umgab ein Schimmer, doch es war nicht das reine Licht, das die Göttin umstrahlte, sondern ein unstetes Flackern, wie von Blitzen, und das Feuer, das in seinem Blick brannte, war eine lodernde Flamme, die alles verzehrte.
»Wohl getroffen«, sagte er. Seine Stimme war warm und ein-schmeichelnd und so unendlich überzeugend, dass man meinte, sie schon immer gehört zu haben und dass sie nur das aussprach, was man selbst schon immer gedacht und geglaubt hatte – und wer weiß, vielleicht war dem ja wirklich so …
»Genug!«, sprach die Göttin. »Du hast dieses Kind in deinen Bann gezogen.« Sie wies auf Hagen, der erstarrt dastand, wie festgefroren in der Bewegung. »Ich will, dass du es freigibst.«
»Habe ich das?«, schnurrte die Stimme. Loki wandte sich und schlich um Hagen herum, betrachtete ihn von allen Seiten wie ein interessantes Museumsstück. Hagen schaute starr geradeaus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; sein Blick war ausdruckslos und leer. Auch Siggi war in seiner knienden Haltung erstarrt; es war wie eine dreidimensionale Szene in einem Wachsfigurenkabinett, festgefroren in einem Augenblick der Zeit.
»Ich habe nur Gedanken in ihm geweckt, die ohnehin in ihm
Weitere Kostenlose Bücher