Pesch, Helmut W.
standen sie schweigend da und gedachten Laurions, der nun nicht mehr in den Krieg musste, und sie beteten dafür, dass er im Tode Frieden fand.
Aber es war noch nicht zu Ende, dachte Siggi; denn jetzt stand ihnen der letzte Teil des Abenteuers bevor. Nur war dieses Abenteuer längst nicht so lustig wie in den Büchern und Filmen, die er kannte. Es gab zu viel, auf das er gern verzichtet hätte.
»Komm!«, forderte er seine Schwester auf. »Wir müssen gehen.«
»Wohin?«, fragte Gunhild.
»Wir müssen Hagen finden, und dann zurück nach Hause«, antwortete Siggi. »Auch in der Anderswelt wird diese Nacht vorüberge-hen. Und du weißt, das Tor öffnet sich bei Sonnenaufgang.«
»Wie wollen wir das denn anstellen?«, fragte das Mädchen. »Laurion kann uns nicht mehr führen. Und wir wissen nicht, wo wir hier sind, und wir wissen nicht, wo Hagen ist und wer weiß wie viele Fallen sich noch auf dem Weg nach oben befinden.«
»Lass es uns versuchen. Hier unten können wir nicht bleiben«, entgegnete Siggi.
»Also gut«, sagte Gunhild. »Du hast Recht.« Siggi bemerkte erfreut, dass etwas vom Geist der alten Gunhild in den Augen seiner Schwester aufblitzte. Der Einfluss Odins ließ immer weiter nach.
Im Grunde konnten sie dem Alten sogar dankbar sein, dachte Siggi, denn Gunhilds Willensschwäche hatte ihr Entkommen erleichtert.
Seltsam, wie ein Teil des Ränkespiels sich zu ihren Gunsten ausge-wirkt hatte.
Sie wandten dem glühenden See den Rücken zu und gingen vorsichtig über den schwarzen Basaltboden auf die offene Tür zu, wo das Labyrinth der Stollen und Schächte begann. Noch ein Stück weit färbte der flackernde Feuerschein Muspelheims die Wände, dann umgab sie wieder das fahle, kalte Dämmerlicht der Höhlen-welt. Der Fels war so grau wie überall. Von den Swart-alfar und ihrem Herrscher war nichts zu sehen.
»Und nun?«, fragte Gunhild.
Sie standen vor einer Weggabelung; drei Gänge führten von hier weg. Siggi konnte nur ein paar Meter in die Gänge hineinsehen.
Einer war so gut wie der andere.
»Wir nehmen den Gang in der Mitte«, entschied er, »denn er führt nach oben.«
Die beiden Kinder setzten sich in Bewegung und machten sich auf die Suche nach dem Weg, der hinaus in die Freiheit führte.
Und nach Hagen.
»Du bist es nicht wert, den Namen der Nibelungen zu tragen. Große Hoffnungen hatte ich in dich gesetzt, aber bei der ersten Probe deines Mutes versagst du kläglich! Ich verstoße dich. Du bist mein Sohn nicht mehr …«
Die Worte Alberichs hallten in Hagens Ohren nach. Vor seinen Augen standen immer noch die Bilder des schrecklichen Kampfes in der Höhle. Mîm war gefallen, im Kampf gegen einen Lios-alf, der zusammen mit Siggi gekommen war. Hagen merkte erst jetzt, wie sehr er den schweigsamen Schwarzalben gemocht hatte.
Alberich hatte er verehrt, als mächtigen Verbündeten geschätzt, aber Mîm und er hätten vielleicht Freunde werden können. Doch sie hatten so wenig Zeit gehabt, sich kennen zu lernen.
Und dann Alberichs Worte. Er war verstoßen worden, ausge-schlossen aus dem Kreis der Swart-alfar, hatte seine gerade erst gewonnenen Ehren verloren.
Mîm tot; von Alberich verstoßen; und Siggi war ihm entkommen. Hagen war einfach losgerannt. Den Runenspeer in der Hand, war er gelaufen, was die Beine hergaben, nur weg, fort von dem Ort dieses schrecklichen Geschehens.
Er wollte nur die Stätte seiner Schande, seiner Niederlage hinter sich lassen. Hagen achtete nicht darauf, wohin er lief, und es war ihm auch egal, in welche Richtung ihn sein Weg führte. Die Scham der Demütigung brannte in ihm, und die Schuld, die er verspürte, machte alles noch schlimmer.
Einen Moment nur hatte er gezögert; einen Lidschlag lang hatte er mit sich gerungen, Siggi den Speer in die Brust zu bohren, um den Triumph der Swart-alfar vollkommen zu machen.
Nur einen Augenblick …
Und wer war für das alles verantwortlich? Siggi! Wer sonst? Wie ein Schemen war er ins Nichts verschwunden, hatte sich mitsamt seiner nichtsnutzigen Schwester einfach verflüchtigt.
Der Ring …
Ja, es musste die Macht des Ringes gewesen sein, die es Siggi er-möglicht hatte, sich aufzulösen wie ein Nebelstreif unter der Sommersonne. Ihm hatte er all diese demütigenden Niederlagen zu verdanken, die seinen Stolz auf tiefste verletzt haben.
Sein Ring …
Ja, es war seiner, Hagens Ring, der es Siggi ermöglicht hatte, der Todesfalle zu entkommen. Oh, sicher hätte er seine Zweifel überwunden, denn Hagen wusste,
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