Pestmond (German Edition)
waren – und so hässlich wie nur weniges, das Andrej bisher zu Gesicht bekommen hatte. Doch das hatte er schnell vergessen, denn der Wind frischte merklich auf, kaum dass es dunkel geworden war, und eisige Böen und hohe Wellen beutelten das kleine Schiff bis in die frühen Morgenstunden hinein. Nur anfänglich hatten sie Kurs auf die Ägäis gehalten, um dann doch wieder abzudrehen und in einem Zickzackkurs südlich an Kreta vorbeizusegeln – allerdings so weit entfernt von der Insel des Minotauros, dass sie kein einziges Licht, geschweige denn den Umriss der Thripti-Berge im südöstlichen Zipfel der Insel hatten erkennen können.
Als sie Kreta endlich hinter sich gelassen hatten und die Sonne aufging, war Andrej gewiss nicht der Einzige, der zum Umfallen müde war. Aber die Müdigkeit war schnell vergessen, denn wie am vergangenen Abend tanzte das Weiß der Caravelle spöttisch auf dem Horizont, gerade noch erkennbar und direkt hinter ihnen, als hätte es die vielen zurückgelegten Meilen und willkürlichen Kursänderungen der vergangenen Nacht nicht gegeben.
»Wenn du mich fragst, dann ist das eigentlich unmöglich«, sagte Hasan neben ihm.
Er stand schon eine geraume Weile dort, sah das Schiff an und hatte ganz offensichtlich darauf gewartet, dass Andrej von sich aus etwas sagte.
Aber er war einfach zu müde dazu. Und zu verärgert. Er schwieg.
»Wie können sie immer noch da sein?«, fuhr Hasan nach einer Weile kopfschüttelnd fort. »Wir haben mindestens ein Dutzend Mal den Kurs geändert!«
Andrej beschattete die Augen mit der Hand, um ins Licht des roten Balls zu blinzeln, der gerade im Osten aus dem Meer stieg. Ohne nautische Instrumente oder einen Bezugspunkt fiel es auch ihm schwer, ihre Position zu bestimmen, aber in der zurückliegenden Nacht hatte er sich an den Sternen orientieren können und dabei festgestellt, dass sie tatsächlich vom Kurs abgekommen waren. Nicht annähernd so weit, wie Hasan zu befürchten schien, aber doch weit genug, um seinen Verdacht zu bestätigen: Es war kein Zufall.
»Alles wäre sehr viel einfacher, wenn du mir endlich sagen würdest, wer sie sind, Hasan, und was sie von dir wollen.«
»Was bringt dich auf die Idee, dass ich das weiß?«
Andrej machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten, sondern sah den Alten vom Berg nur mitleidig an, sodass Hasan es schon bald aufgab, den Überraschten zu geben und damit wieder einmal bewies, was für ein schlechter Lügner er war.
»Das ist eine komplizierte Geschichte, und ich bin nicht einmal ganz sicher. Aber dir sollte klar sein, Andrej, dass ein Mann wie ich Feinde hat. Feinde, die sich eine Gelegenheit wie diese wohl kaum entgehen lassen würden.«
»Und die wissen, wohin wir unterwegs sind?« Und warum ?
»Ich hatte gehofft, sie auf eine falsche Fährte gelockt zu haben, aber wie es scheint, ist mir das wohl nicht gelungen.«
»Vielleicht folgen sie einfach allen Spuren – in der Hoffnung, dass die Beute den Aufwand lohnt …«, sagte Andrej.
Hasan machte keinen Hehl daraus, wie wenig es ihm gefiel, als Beute bezeichnet zu werden, eine Rolle, in der er vermutlich noch nicht oft gewesen war. Er schlug den Mantel zurück, um erneut sein heißgeliebtes Fernrohr zu zücken und nach Süden zu blicken. Schließlich setzte er es ab und streckte es Andrej hin, doch der lehnte mit einem wortlosen Kopfschütteln ab. Er hatte alles von diesem Schiff gesehen, was er sehen musste.
Hasan hob die Schultern und steckte das Instrument wieder ein. Andrej, dessen Blick der Bewegung folgte, fielen zum ersten Male die blassen Streifen auf Hasans Fingern auf, als trüge er dort normalerweise zahlreiche schwere Ringe.
»Warum haben sie uns nicht schon längst angegriffen?«, fuhr Hasan nach einer Weile fort, nunmehr mit bloßen Augen zu der Caravelle hinsehend.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej.
Hasan seufzte. »Gut. Dann stelle ich die Frage anders: Wenn du der Kapitän dieses Schiffes da wärst und unsere brave kleine Pestmond überfallen wolltest …«
»Aufbringen«, sagte Andrej. »Auf See spricht man von aufbringen, Hasan.«
»… wenn du die Pestmond aufbringen wolltest«, setzte Hasan neu an, »wie würdest du vorgehen?«
»Vorgehen?« Andrej tat so, als müsste er einen Augenblick angestrengt nachdenken. »Ich würde Segel setzen und längsseits gehen, eine einzige Breitseite abfeuern und die Trümmer aus dem Wasser fischen, … sofern genug übrig bleibt, damit sich die Mühe lohnt. Was wahrscheinlich
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