Pestmond (German Edition)
Handbewegung, die den gesamten sichtbaren Teil des Händlerviertels einschloss. »Bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht, wird dort draußen niemand mehr am Leben sein. Und ich würde ungern zu ihnen gehören.«
»Dann weißt du also, was dort draußen passiert ist.«
»Ich glaube, ich erinnere mich«, sagte Hasan, »flüchtig. Aber das solltest du auch, denn wenn mich meine Erinnerung nicht ganz im Stich lässt, dann warst du dabei. Ich kann mich selbstverständlich irren. Ich bin ein alter Mann, und da lässt das Gedächtnis auch schon einmal nach, wie du weißt.«
»Du weißt genau, wovon ich spreche.«
Hasans Lächeln erlosch. »Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste, Andrej«, sagte er. Andrej spürte, dass er log. »Was wir gerade gesehen haben, das hat mich mindestens ebenso sehr erschreckt wie dich. Aber ich bin nicht blind, und ich kann rechnen. Du hast gesehen, wie schnell diese Krankheit um sich greift. Wenn schon eine flüchtige Berührung genügt, um einen Menschen in das zu verwandeln, was wir gesehen haben, dann kannst du dir an den Fingern deiner Hände abzählen, wie lange es dauert, bis sie das gesamte Händlerviertel ergriffen hat. Wenn du genug Finger an den Händen hast, natürlich.«
Andrej fand Hasans bemühte Art zu scherzen nicht nur nicht komisch, sie machte ihn zornig. »Das ist keine Krankheit.«
»Vielleicht ist es auch die Strafe Gottes für irgendetwas, das sie getan haben«, gab Hasan mit einem Achselzucken zurück, als interessierte es ihn nicht wirklich.
»Oder auch wir.«
»Oder auch wir. Es spielt keine Rolle. Wir können uns hinterher die Köpfe darüber zerbrechen und lange theologische Streitgespräche führen, wenn du das möchtest, aber jetzt müssen wir weg. So lange wir es noch können.«
»Können wir es denn noch?«, fragte Andrej.
»Es gibt einen unterirdischen Gang, der direkt zur Küste führt. Niemand weiß davon, aber er stammt noch aus der Zeit, als sich die Pilger in dieser Festung vor Saladins Truppen verschanzt haben. Er sollte ihnen als letzter Ausweg dienen, falls die Mauern fallen. Stattdessen haben Richard und seine Soldaten ihn benutzt, um hereinzukommen und den Truppen des Sultans in den Rücken zu fallen.« Er lächelte flüchtig. »Davon steht nichts in den Geschichtsbüchern, ich weiß … aber so werden Legenden geboren.«
»Warst du dabei?«, fragte Andrej.
»Nein«, gab Hasan zurück. »Du?« Er winkte ab. »Gleichwie. Es gibt ihn, und du solltest beten, dass er nach all den Jahren noch gangbar ist. Wenn nicht, dann sind wir verloren, und du musst dir um das Leben deines Freundes keine Sorgen mehr machen, denn dann rettet uns nur noch ein Wunder.«
Was Wunder anging, so konnte Andrej nichts mehr überraschen, solange Hasan dabei seine Finger im Spiel hatte. Er deutete mit dem Kopf auf das offene Fenster. »Und diese Stadt überlassen wir einfach ihrem Schicksal?«
Hasan wirkte fast ein bisschen traurig. »Die Tore der Altstadt werden jeden Abend bei Sonnenuntergang geschlossen und erst am nächsten Morgen wieder geöffnet. Sobald wir draußen sind, schicke ich einen Boten zurück, der die Menschen außerhalb der Mauern warnt. Für alle anderen können wir nichts mehr tun, fürchte ich.«
»Und auch wenn du es könntest, würdest du es nicht tun«, vermutete Andrej. Schon weil er dann unangenehme Fragen beantworten müsste. Hasan war ein erbärmlicher Lügner.
»Das ist eine rhetorische Frage«, sagte Hasan, »und dafür ist jetzt wirklich nicht genügend Zeit. Stell sie mir später!«
»Ich muss wohl anfangen, eine Liste zu führen«, knurrte Andrej. »Es werden allmählich ziemlich viele.«
»Ich schicke dir meinen Schreiber, damit er alles notiert. Aber erst, wenn wir auf der Pestmond sind. Jetzt geh und hilf deinem Freund! Wir treffen uns unten im Hof.«
Alles, was Abu Dun und er besaßen, trugen sie am Leib, und das wusste Hasan so gut wie er. Er wollte ihn loswerden, warum auch immer.
Trotzdem beließ Andrej es bei einem ärgerlichen Blick und verließ die Halle, um nach oben und zu Abu Dun zu gehen. Er kam jedoch nicht weit, denn Abu Dun war entweder schon zurück oder – was wahrscheinlicher war – gar nicht erst in die kleine Kammer hinaufgegangen, in der sie eigentlich das erste Mal seit Wochen eine Nacht in einem richtigen Bett hatten schlafen wollen.
»Du warst … schnell«, sagte er.
»Das bin ich immer. Vor allem wenn man mich wegschickt, um rein gar nichts zu tun.« Der Nubier stülpte verächtlich die
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