Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pestmond (German Edition)

Pestmond (German Edition)

Titel: Pestmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
fallen.
    »Beim nächsten Mal, du ignoranter … undankbarer …« Er brach mit einem Laut ab, der verdächtig an ein Schluchzen erinnerte. Andrej schob es auf das schwache Licht auf dem Hof, dass er für einen Moment glaubte, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen.
    »Barbar?«, schlug Abu Dun vor.
    »Barbar!«, bestätigte Kasim. »Ich habe dieses Kunstwerk mit meinem Herzblut gebaut, und du … du …«
    »Schlägst Wände damit ein?«
    »Schlägst Wände damit ein!«, keuchte Kasim.
    »Aber ich dachte, dafür wäre sie da«, sagte Abu Dun treuherzig. »Sie ist aus Eisen.«
    »Und ein Wunderwerk der Mechanik«, heulte Kasim. »Würdest du so etwas vielleicht mit deiner eigenen Hand versuchen?«
    »Wieso würdest?« Abu Dun ballte die andere, fünffingrige Faust vor dem Gesicht. »Ich habe es oft genug getan.«
    »Und? Geht sie dabei etwa nicht kaputt?«
    »Manchmal«, gestand Abu Dun. »Aber nie für lange. Und sie macht mir keine Vorwürfe, während sie heilt … und was hast du überhaupt mit meinem Schwert gemacht?«
    Er riss Kasim den Säbel so grob aus der Hand, dass Andrej nicht erstaunt gewesen wäre, ein paar Finger fliegen zu sehen, und machte ein skeptisches Gesicht. »Was ist das?«
    Auch Andrej beugte sich neugierig vor und gewahrte einen kompliziert aussehenden, aber wenig eleganten Haken, den Kasim am Griff des Säbels befestigt hatte.
    »Damit kannst du die Waffe fest mit der Hand verbinden«, schnaubte Kasim. »Oder hättest es gekonnt, wenn du meine Arbeit nicht mit Füßen getreten und sie ruiniert hättest!«
    Abu Dun versuchte das Schwert fest mit der anderen Hand zu ergreifen, was ihm aber nicht gelang, denn nun war der Haken im Weg. Er sah Kasim vorwurfsvoll an.
    »Wozu brauchst du ein Schwert?«, fauchte Kasim. »Wo du doch Mauern mit der bloßen Hand einschlagen kannst?«
    »Solange sie fünf Finger hat«, sagte Abu Dun, und das war zu viel. Kasim fuhr auf dem Absatz herum und stürmte wutschnaubend davon.
    Andrej sah ihm stirnrunzelnd nach, bevor er ebenfalls mit schnellen Schritten zum zweiten Mal die Treppe zum Wehrgang hinaufeilte – nur für den Fall, dass Abu Dun in besonders witziger Stimmung war und noch ein paar Bemerkungen loswerden wollte, nach denen ihm jetzt nicht der Sinn stand. Abu Dun schien sich jedoch ausnahmsweise entschieden zu haben, den Bogen nicht zu überspannen, denn er folgte ihm wortlos, nachdem er das Schwert unter den Gürtel geschoben hatte.
    »Kannst du dich vom Anblick dieser wunderschönen Stadt nicht losreißen?«, fragte er, nachdem er neben ihn an die brüchige Mauerkrone getreten war.
    »Du spürst es doch auch, oder?«, fragte Andrej.
    Dieses Mal bekam er keine spöttische Bemerkung zur Antwort. Abu Duns Gesicht schien zu einer Maske aus schwarzem Stein zu erstarren, und Andrej merkte, wie er mit all seinen Sinnen in die Nacht hinaus zu lauschen begann. Schließlich brach er zu Andrejs Erstaunen mit den Fingern seiner Eisenhand einen Steinbrocken aus der Mauerkrone, wog ihn prüfend und beugte sich dann vor, um ihn so wuchtig in die Tiefe zu schleudern, dass er hörbar durch die Luft pfiff. Andrej lehnte sich ebenfalls vor und sah den Stein zwar nicht mehr, wohl aber einen formlosen Schatten, der vor dem dunklen Hintergrund des Tores mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen war. Ein trockenes Knacken erscholl, und der Schatten kippte lautlos nach hinten.
    »Besuch«, sagte Abu Dun. »Dabei habe ich niemanden eingeladen. Du?«
    Aus der Dunkelheit schälten sich humpelnde und torkelnde Umrisse, die sich über den gestürzten Körper beugten, wie um einem verwundeten Kameraden zu helfen, doch dann schnell wieder das Interesse an ihm verloren und weiterschlurften, um dessen Platz am Tor einzunehmen. Andrej wusste zwar, dass es selbst für seine scharfen Ohren unmöglich war, meinte aber trotzdem das Kratzen von Fingernägeln und Knochen auf Holz zu hören.
    Abu Dun wies mit dem Kopf gerade hinunter, und nun, einmal darauf aufmerksam geworden, erblickte Andrej auch dort zahlreiche Gestalten mit leeren Gesichtern und offenen Mündern, die sich mit erhobenen Armen und flehend ausgestreckten Händen gegen die Wand pressten und in einem gemeinsamen Takt hin und her wogten, wie Korn auf einem Feld, durch das der Wind streicht. Nur war es ein lautloser Wind, und das war vielleicht das Unheimlichste überhaupt. Andrej wäre es lieber gewesen, sie hätten gestöhnt, gejammert oder nach Fleisch geschrien, doch aus der immer größer werdenden Menge drang kein

Weitere Kostenlose Bücher