Pestmond (German Edition)
Turban) war dieser Tunnel sicher eine schiere Qual.
Immerhin klärte sich das Geheimnis, wie es einer Handvoll Pilger ohne Erfahrung und richtiges Werkzeug gelungen war, einen Tunnel bis zum Meer hinunter zu bauen, über eine Entfernung von mehr als einer halben Meile und ohne dass die Menschen in der Stadt über ihren Köpfen etwas davon merkten: Er war nicht von Menschenhand geschaffen. Hätte man sie gefragt, dann hätten sie vermutlich geantwortet, Gott hätte ein Wunder für sie gewirkt, und in gewissem Sinne stimmte das vielleicht sogar. Die steinerne Röhre führte in sanftem Gefälle und beinahe schnurgerade zum Meer hinab. Die Wände waren glatt und erinnerten eher an Wachs, das in der Sonne geschmolzen und wieder erstarrt war, als an Fels. Hier und da warfen sie das Licht der Fackel zurück, als wäre es schwarzes Glas. Andrej meinte beinahe, den brennenden Stein zu riechen, der rot und gelb hier entlanggeflossen war und diese Arterie zurückgelassen hatte, möglicherweise schon zu einer Zeit, als es noch keine Menschen auf der Welt gegeben hatte. Hasan hatte recht gehabt, dachte er spöttisch. So wurden Legenden geboren.
»Was meinst du damit?«, fragte Ali hinter ihm. Offensichtlich hatte er zumindest den letzten Gedanken laut ausgesprochen.
»Nichts«, antwortete er. »Nur etwas, woran ich denken musste.«
»Dann tu es leise!«, sagte Ali unfreundlich. »Das hier ist kein Ort, um zu …«
Er unterbrach sich nicht nur mitten im Wort, sondern blieb stehen und lauschte angestrengt. Seine linke Hand sank auf den Schwertgriff, die andere legte er auf Aylas Schulter und zog sie zuerst an seine Seite, dann hinter sich. Andrej horchte ebenfalls, doch die fremde Akustik der Lavaröhre narrte seine Sinne. Er hörte etwas, aber er konnte nicht sagen, was es war, nicht einmal, aus welcher Richtung es kam.
Nun roch er jedoch etwas: Ein kühler Lufthauch wanderte wie tastende Fingerspitzen über sein Gesicht und brachte den Geruch von Salzwasser mit sich, aber auch etwas ganz sacht Fauliges, das seine Fantasie anregte, ihm die schrecklichsten Bilder vorzugaukeln. Doch vermutlich war es nur ein Tier, das das Meer, dem sie sich jetzt näherten, angespült hatte, oder Tang, der in der Sonne faulte. Nach dem, was sie vorhin im Händlerviertel erlebt hatten, sollte er seinen Nerven zugestehen, ihm den einen oder anderen Streich zu spielen.
Trotzdem fuhr er erschrocken zusammen, als er das Geräusch von Schritten vor sich hörte. Mit klopfendem Herzen griff er nach seinem Schwert, doch der Saif glitt nur eine Handbreit aus der Scheide und dann mit einem Laut zurück, der in der steinernen Röhre wie das Knallen einer Peitsche klang, als er die Gestalt mit dem charakteristischen Dreispitz erkannte.
»Kapitän Vercelli! Das ging schnell!« Seine Stimme verriet mehr über den Grad seiner Nervosität, als ihm lieb war. Vielleicht schoben Ali und das Mädchen es ja auf die verzerrende Akustik hier unten. Und seine Hand weigerte sich noch immer, den Griff der Waffe loszulassen.
»Ist das Boot schon …?«
Er brach ab, als Vercelli einen weiteren schwankenden Schritt auf ihn zumachte. Denn Vercelli war nicht mehr Vercelli.
Ein Auge fehlte, von denselben Fingernägeln oder Zähnen ausgelöscht, die auch seine Wange zerfetzt und ein gut daumennagelgroßes Stück aus seiner Oberlippe gerissen hatten, und in der Kehle klaffte ein Loch, in das eine Kinderfaust gepasst hätte.
Hinter ihm stieß Ayla einen spitzen Schrei aus und schlug sich klatschend die Hand vor den Mund. Andrej erwachte endlich aus seiner Schockstarre, ließ die Fackel fallen und wollte erneut das Schwert ziehen. Doch ein scharfer Schmerz an seinem Ellbogen erinnerte ihn daran, wie schmal die unterirdische Lavaröhre an dieser Stelle war, und bevor er es noch einmal versuchen konnte, war der tote Kapitän heran, packte mit beiden Händen seinen Arm und riss ihn nach oben, um ein Stück herauszubeißen.
Was Andrej vielleicht am meisten überraschte, war die Kraft, mit der die furchtbare Kreatur zugriff. Aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, dass die untoten Wesen genauso viel an Stärke eingebüßt hatten wie an Geschick und Schnelligkeit, aber das Gegenteil schien der Fall zu sein. Vercelli hatte schon zu Lebzeiten den Eindruck eines sehr starken Mannes gemacht, und daran hatte sich nichts geändert. Andrej war so überrascht, dass es Vercelli fast gelungen wäre, die Zähne in sein Fleisch zu schlagen.
Aber eben fast beinahe.
Andrej ließ den
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