Pestmond (German Edition)
aufgerissenen Augen auf den toten Kapitän, doch Andrej bezweifelte, dass sie Alis Worte hörte. Dafür hatte er sie umso deutlicher verstanden.
»Was soll das heißen?«, fragte er scharf. »Was willst du damit sagen? Was hat sie getan?«
Ali fuhr mit einer Bewegung zu ihm herum, die Andrej an das Zustoßen einer wütenden Schlange erinnerte. »Die Frage ist doch wohl eher, was du nicht getan hast, Ungläubiger. Mein Herr hat dir das Leben des Mädchens anvertraut, und für einen Moment dachte ich wirklich, dass du dich dieses Vertrauens als würdig erweist. Hätte ich mich darauf verlassen, dann wäre sie jetzt vielleicht tot.« Und ich auch, las Andrej in seinen Augen.
Und er musste Ali beipflichten, ob es ihm gefiel oder nicht. Er hatte zugelassen, dass Schreck und Überraschung seine Reaktionen beeinflussten, das war ein unverzeihlicher Fehler. Dass es dem toten Kapitän wohl kaum gelungen wäre, an ihm vorbeizukommen, spielte keine Rolle. Er hatte versagt, das allein zählte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber Ayla kann nichts …«
»Das geht dich nichts an, Ungläubiger!«, fiel Ali ihm scharf ins Wort, die Augen schwarz vor Zorn und die Hand so fest um den Schwertgriff geschlossen, dass alles Blut aus seinen Knöcheln wich.
Und da begriff Andrej den Grund für diese heftige Reaktion: Es war Ayla. Ali war fast verrückt vor Angst um seine Schwester.
»Es … tut mir leid«, sagte er daher beruhigend. »Ich habe Vercelli gesehen und mich täuschen lassen. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich wusste nicht, dass es so schnell geht.«
Ali verzog keine Miene, sondern starrte ihn nur weiter an, bis sich Andrej unbehaglich abwandte und die wenigen Schritte bis zum Ende des Tunnels ging.
Der Gang endete nicht ebenerdig, sondern auf halber Höhe einer vielleicht fünfzehn Fuß messenden Steilwand, unter der ein schmaler Sandstreifen die Stadt vom Ozean und seiner Brandung trennte. Die Farbe des Sandes und die Abwesenheit jedweden sichtbaren Lebens verrieten ihm, dass der Strand mindestens während des halben Tages unter Wasser stand. Ein ganzes Stück draußen auf dem Meer, wie weit, war ihm in Ermangelung eines Bezugspunktes unmöglich zu sagen, blinzelte ein blassrotes Licht im regelmäßigen Takt der Dünung. Die Pestmond .
Da er nicht annahm, dass Hasan von ihnen erwartete, zum Schiff hinauszuschwimmen, hielt er nach einem Boot Ausschau und gewahrte nach einem Moment einen formlosen Umriss, der ein gutes Stück weit draußen auf den Wellen tanzte. An Bord brannte kein Licht, und er konnte auch keine Passagiere erkennen. Das Boot musste sich losgerissen haben, falls Vercelli es überhaupt festgebunden hatte. Vielleicht war er ja nicht mehr dazu gekommen.
»Wo ist Vercelli?«
Andrej fuhr so erschrocken zusammen, dass die Fackel eine Woge winziger roter Lichtblitze über den Strand huschen ließ, bevor sie im schwarzen Wasser ertranken oder an den noch schwärzeren Lavafelsen zerschellten. »Nicht mehr da«, antwortete er gereizt. »Du hättest ihn vielleicht doch töten sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest.«
Ali musste sehr wohl verstanden haben, wem der Zorn in seiner Stimme wirklich galt, denn er verzog nur geringschätzig die Lippen. Andrej sah keine Veranlassung, ihm noch mehr Grund zur Überheblichkeit zu liefern. Ohne ein weiteres Wort und noch in der Bewegung sein Schwert ziehend sprang er auf den Strand hinab, so unbeholfen, dass er die Fackel fallen ließ, die auf dem nassen Sand mit einem höhnischen Zischen erlosch. Ali kommentierte sein Ungeschick mit einer Bemerkung, doch Andrej hörte nicht hin. Dann folgte Ali ihm auf dieselbe Weise (wenn auch wesentlich eleganter) und rammte das Ende seiner Fackel in den weichen Sand, bevor er sich herumdrehte und die Arme hob. Ayla machte, ohne zu zögern, einen Schritt über die Kante und überließ es ihm, sie aufzufangen und sicher auf den Strand zu setzen.
Nachdem die beiden Assassinen ihnen hinterhergesprungen waren, rammte einer von ihnen auch seine Fackel in den Sand, legte Schwertgurt und Dolch ab und lief in die Brandung hinaus, bis er den Boden unter den Füßen verlor.
Besorgt sah Andrej, wie sein Kopf mehrmals in den flachen Wellentälern verschwand und wieder auftauchte, bis der Assassine endlich das treibende Boot erreichte und sich mit einer kraftvollen Bewegung hineinzog.
Um ein Haar wäre das kleine Schiffchen gekentert, doch er brachte es mit einer geschickten Rolle wieder in die Waagerechte und griff nach den
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