Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
zu fassen bekommen hätte. Ich murmelte eine Entschuldigung, aber sie benahm sich, als sei nichts geschehen, scheinbar zu tief in ihre Andacht versunken. Schließlich rückte jemand zur Seite, wenngleich missmutig, und überließ mir das Ende der Bank, auf dem ich unsicher mit einer Pobacke balancieren konnte. Es war Henry, der Kutscher. Ich nickte ihm zum Dank zu, doch auch er blieb stur dabei, mich nicht wahrzunehmen.
Möglicherweise hatte Edward den Psalm extra für mich ausgewählt. Die Kerzenflammen in den Wandleuchtern über seiner Kanzel beugten sich mit seinen Bewegungen, als er mich anklagend anstarrte. »Herr, wende deine Plage von mir!«
»Amen«, sagte Mrs Stonehouse in ihrer Bank ganz vorn, ihre Kinder und schließlich die ganze Gemeinde taten es ihr gleich.
Edward umklammerte die Kanzel, seine Stimme klang wie die eines Racheengels. »Höre mein Gebet! Denn ich bin dein Pilgrim und dein Bürger wie alle meine Väter … lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe denn ich hinfahre und nicht mehr hier sei.«
Ich erschauderte, denn obwohl die Worte an den Sarg unter ihm gerichtet waren, schienen sie direkt auf mich zu zielen. Ich fühlte, dass ich Gott gelästert hatte, als ich wie ein Dieb in der Nacht Erinnerungen stahl, die ich nie geteilt hatte. Als die Gemeinde leidenschaftlich für Mrs Morlands Seele auf ihrer letzten Reise betete, bemühte ich mich, mit einzustimmen, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ich konnte ihre Gegenwart spüren. Sie wollte sich nicht auf die Reise begeben, solange ich dort war. Eine Böswilligkeit schien vom Sarg auszugehen, ebenso greifbar wie der klamme, süßliche Duft des Rosmarins auf seinem Deckel. Panik stieg in mir auf, und ich war kurz davor, aus der Kirche zu flüchten, als mir einfiel, dass ich sehr wohl Erinnerungen hatte, Kates Erinnerungen, die genau so wirklich für mich waren, als wären es meine eigenen. Ich konnte mir vorstellen, wie Mrs Morland das Kleid meiner Mutter hochgerissen hatte, als würde sie einen Vorhang zurückziehen, als ich das Licht der Welt erblickte.
Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und betete, nicht für Mrs Morland, sondern für meine Mutter, die an diesem Ort begraben worden war, vermutlich in aller Heimlichkeit und Stille. Weinend stand ich unbeholfen und schwerfällig auf, als der Sarg angehoben und den Mittelgang hinuntergetragen wurde. Die Kinder hüpften kurz umher, um die herabfallenden Rosenblätter aufzusammeln, bis sie von ihrer Mutter zur Ordnung gerufen wurden.
Durch meinen verschwommenen Blick sah ich hinter dem schwankenden Sarg die Liste der amtierenden Pfarrer, beginnend mit Hugh Bertrand im Jahre 1112. Von 1622 bis 1625 war Mark Stevens Pfarrer. Danach klaffte eine Lücke, bis 1627, als Edward Stonehouse die Pfründe erhielt, zusammen mit der Kirche in Highpoint. Auf einmal bemerkte ich, dass ich die Menschen in meiner Bankreihe aufhielt. Alle schoben sich eilig an mir vorbei, als sei ich eine Plage, wie Edward es indirekt nahegelegt hatte, außer Henry, der seinen Hut fallen ließ. Als er ihn endlich aufgehoben hatte, hatten die meisten Trauergäste die Kirche verlassen und folgten dem Sarg.
»Upper Vale«, sagte Henry. Unsere Blicke trafen sich, und ich begriff, dass er der Kutscher gewesen sein musste, der Kate geholfen hatte, ein Feuer für meine Mutter zu entzünden, nachdem er sie zu dem abgeschiedenen Bauernhaus gefahren hatte. »Mark Stevens ist in Upper Vale.«
»Danke«, sagte ich, aber er war bereits verschwunden.
Die Kirche blieb offen, vermutlich, weil der Todesfall noch im Register notiert werden musste. Auf einem kleinen Tisch in der Sakristei lag ein gebundenes Buch, bereit für die Eintragung, daneben eine Feder und ein Horn mit Tinte. Das Buch war aufgeschlagen, der Luftzug zerrte an den Seiten, die durch ein Siegel festgehalten wurden. Ich sprang auf, als ein klapperndes Geräusch in der Kirche ertönte. Eine zinnerne Schüssel, die bei Taufen verwendet wurde, war vom Taufbecken gefallen und rollte über die Steinfliesen. Durch die Tür konnte ich erkennen, wie der Sarg in das Grab abgesenkt wurde.
In dem Buch waren die Geburten, Eheschließungen und Todesfälle im Kirchspiel seit 1604 verzeichnet, dem Jahr, in dem die Kirche versuchte, ihren Einfluss auf die Eheschließungen zu vergrößern. Vor diesem Zeitpunkt heirateten die Menschen, oder glaubten es zumindest, indem ihre Eltern sich einigten, sie sich vor Zeugen zu einander bekannten oder sogar, bei armen
Weitere Kostenlose Bücher