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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Kind packt ein wildes Delirium, wenn er die Siedlung verläßt, fortgeht oder fortfährt. Das erste Gefühl ist ein Energieanstieg bis an die Grenze des Wahnsinns. Danach meldet sich ein sonderbarer, glasklarer Überblick.
    Ich weiß selbst, daß das komisch ist. Doch hier, um zwei Uhr nachts im Kopenhagener Hafen, kommt mir trotzdem dieses Gefühl des Überblicks. Als würde es sich irgendwie aus dem Eis und dem Nachthimmel und dem relativ offenen Raum ergeben.
    Ich denke daran, was mir seit Jesajas Tod passiert ist.
    Ich sehe Dänemark wie eine Eiszunge vor mir. Sie wandert, doch in den Eismassen eingefroren hält sie uns alle im Verhältnis zueinander in einer bestimmten Position fest.
    Jesajas Tod ist eine Unregelmäßigkeit, eine Verwerfung, die eine Spalte verursacht hat. Diese Spalte hat mich freigesetzt. Für eine kurze Zeit, ohne daß ich erklären kann wie, bin ich in Bewegung geraten, ein über das Eis schlitternder Fremdkörper geworden. Der jetzt in Clownsmütze und geliehenen Schuhen durch den Kopenhagener Hafen schlittert.
    Aus dieser Ecke kommt ein neues Dänemark zum Vorschein. Ein Dänemark, das aus denen besteht, die sich teilweise aus dem Eis herausgewunden haben.
    Loyen und Andreas Licht, die eine – ganz verschiedene – Gier getrieben hat.
    Elsa Lübing, Lagermann, Ravn, Beamte, deren Stärke und Problem in ihrer Treue zum Staatsapparat und in ihrer Loyalität gegenüber einem Unternehmen oder dem Ärztestand liegen. Die diese Loyalität aber aus Mitleid, aus Eigenheit, aus unverständlichen Gründen umgangen haben, um mir zu helfen.
    Lander, der Geschäftsmann, der Reiche, den eine Lust auf Abenteuer und eine rätselhafte Dankbarkeit treiben.
    Das ist der Ansatz eines sozialen Querschnitts durch Dänemark. Der Mechaniker ist der Handwerker, der Arbeiter. Juliane der Abschaum. Und ich – wer bin ich? Bin ich die Wissenschaftlerin, die Beobachterin? Bin ich diejenige, die die Chance hat, das Leben teilweise von außen zu betrachten? Von einem Aussichtspunkt aus, der zu gleichen Teilen aus Einsamkeit und Überblick besteht?
    Oder bin ich einfach nur pathetisch?
    In der Fahrrinne wird der Eisbrei durch eine dünne, dunkle, angelaufene Eiskruste zusammengehalten, die man ›faules Eis‹ nennt. Von unten her aufgelöst und zermürbt. Ich gehe am schwarzen Rand entlang auf den Weißen Schnitt zu, bis ich eine Scholle finde, die dick genug ist. Ich trete auf sie hinüber und von da aus weiter auf die nächste. Es herrscht eine schwache Strömung aus dem Hafen hinaus, von vielleicht einem halben Knoten. Wiegend, tödlich. Das letzte Stück springe ich von Scholle zu Scholle. Ich hole mir nicht einmal nasse Füße.
    Die Fenster im Weißen Schnitt sind dunkel. Das ganze Gebäude scheint in einem Schlaf zu liegen, der auch die Mauern, den Spielplatz, die Treppen und die nackten Stämme der Bäume einschließt. Ich komme vom Kanal her, gehe hinter die Fahrradschuppen, langsam und vorsichtig. Dort bleibe ich stehen.
    Ich schaue mir die parkenden Autos an. Die dunklen Türöffnungen. Keine Bewegung. Darin schaue ich auf den Schnee. Eine dünne, feine Schicht Neuschnee.
    Der Mond scheint nicht, deshalb dauert es etwas, bis ich sie sehe. Eine einzelne Reihe von Spuren. Er ist über die Brücke gekommen und um das Gebäude herumgegangen. Auf dieser Seite des Spielplatzes werden die Spuren sichtbar. Eine Vibramsohle unter einem großen Menschen. Die Spuren führen unter das Schutzdach vor mir, aber nicht wieder fort.
    Dann spüre ich ihn. Kein Laut, kein Duft, es ist nichts zu sehen. Doch durch die Spuren entsteht in mir eine Resonanz für seine Anwesenheit, die Gewißheit einer äußersten Gefahr.
    Wir warten zwanzig Minuten. Als ich in der Kälte anfange zu zittern, ziehe ich mich, um keinen Lärm zu machen, von der Wand zurück. Ich könnte vielleicht aufgeben und denselben Weg zurückgehen, den ich gekommen bin. Doch ich bleibe. Ich verabscheue Furcht. Ich hasse es, Angst zu haben. Es gibt nur einen Weg zur Furchtlosigkeit. Nämlich den, der in das rätselhafte Zentrum der Angst hineinführt.
    Zwanzig Minuten lautloses Warten. Bei dreizehn Grad Frost. Meine Mutter brächte das fertig. Und die meisten grönländischen Robbenfänger schaffen es jederzeit. Ich selbst kriege es auch schon mal hin. Für die meisten Europäer wäre es undenkbar. Sie würden ihr Gewicht verlagern, sich räuspern, husten, mit ihrer Kleidung rascheln.
    Er, dessen Anwesenheit ich weniger als einen Meter von mir entfernt spüre,

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