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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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muß davon überzeugt sein, daß er allein ist, daß niemand ihn hören oder sehen kann. Trotzdem ist er so lautlos, als habe er nie existiert. Und doch bin ich keine Sekunde lang versucht, mich zu bewegen. Der Kälte nachzugeben. In einem einzigen, langen, inneren Heulton erzählt mir mein Gefühl, daß da einer wartet. Daß er auf mich wartet.
    Ich höre ihn nicht einmal aufbrechen. Einen Moment lang habe ich die Augen geschlossen, weil die Kälte sie zum Tränen gebracht hat. Als ich sie wieder aufmache, hat sich ein Schatten unter dem Halbdach losgerissen und bewegt sich fort. Eine hohe Gestalt, ein schneller, gleitender Gang. Und über dem Kopf, wie ein Heiligenschein oder eine Krone, etwas Weißes, vielleicht ein Hut.
    Eisbären werden auf zweierlei Weise gekennzeichnet. Das Normale ist, daß man sie vom Hubschrauber aus betäubt. Die Maschine geht direkt über dem Bären herunter, man lehnt sich aus dem Cockpit, in dem Moment, wo ihn der Luftdruck des Rotors trifft, drückt er sich auf die Erde, und man schießt.
    Dann gibt es noch die Methode, die wir in Svalbard benutzt haben. Vom Schneescooter aus, the viking way . Man schießt mit einem Spezialluftgewehr der Firma Neiendamm aus Nordschleswig. Dazu muß man unter fünfzig Meter herankommen. Noch besser unter fünfundzwanzig. In dem Moment, in dem der Bär stehenbleibt und sich zu einem umdreht, sieht man ihn wirklich. Nicht das lebende Aas, über das man sich im zoologischen Garten amüsiert, sondern den Eisbären , den vom grönländischen Wappen, den Koloß, eine dreiviertel Tonne Muskeln, Knochen und Zähne. Mit einer extremen, lebensgefährlichen Explosionsfähigkeit. Ein Raubtier, das erst zwanzigtausend Jahre existiert und in dieser Zeit nur zwei Kategorien von Säugetieren gekannt hat. Seine eigene Art und die Beute, das Fressen.
    Ich habe noch nie danebengeschossen. Wir schossen mit Patronen, durch die mit einem Gasgerät eine hohe Dosis Zolatil injiziert wurde. Der Eisbär fiel fast augenblicklich. Doch nicht ein einziges Mal ist es mir gelungen, einer panischen, haarsträubenden Angst zu entgehen.
    Wie jetzt. Was sich von mir entfernt, ist nur ein Schatten, ein Fremder, ein Mensch, der von meiner Anwesenheit nichts ahnt. Doch auf meiner vor Kälte gefühllosen Haut sträuben sich die Härchen wie die Stachel eines Igels.
    Ich gehe durch die Keller zur Treppe. Die Wohnung des Mechanikers ist abgeschlossen, das Klebeband ist an seinem Platz.
    Die Tür zu Julianes Wohnung steht offen. Als ich vorbei bin, kommt sie auf die Treppe hinaus.
    »Du gehst fort, Smilla.«
    Sie sieht hilflos und verkommen aus. Ich hasse sie trotzdem.
    »Warum hast du mir nichts von Ving erzählt?« sage ich. »Daß er Jesaja immer abgeholt hat.«
    Sie fängt an zu weinen.
    »Die Wohnung. Er hat uns die Wohnung gegeben. Er ist irgendwas in der Wohnungsbaugesellschaft. Er hätte sie mir wieder wegnehmen können. Das hat er selber gesagt. Kommst du nicht zurück?«
    »Doch«, sage ich.
    Das ist wahr. Ich muß zurückkommen. Juliane ist das einzige, was von Jesaja noch übrig ist. So wie ich für Moritz der einzige Weg bin, auf dem er meine Mutter erreichen kann.
    Ich gehe zu meiner Wohnung hinauf. Das Klebeband ist unberührt. Ich schließe auf. Alles liegt noch so da, wie ich es verlassen habe. Ich suche die notwendigsten Sachen zusammen. Das sind zwei Koffer voll, und sie wiegen so viel, daß ich einen Umzugswagen anrufen müßte! Ich versuche umzupacken. Das ist mühselig, weil ich mich nicht traue, Licht zu machen, sondern in dem von außen kommenden Licht der Stadt packe, das der Schnee spiegelt. Schließlich beschränke ich mich auf eine große Sporttasche. Allerdings nicht ohne herzergreifende Opfer.
    Mitten im Wohnzimmer sehe ich mich ein letztes Mal um, nehme aus der Schublade Jesajas Zigarrenkiste und lege sie in die Tasche. Ich nehme einen kurzen, wortlosen Abschied von meinem Zuhause. Da klingelt das Telefon.
    Selbstverständlich muß ich es klingeln lassen. Ich habe dem Mechaniker versprochen, nicht mehr hierherzugehen. Mit der Polizei würde ich nicht reden wollen. Alles andere kann warten. Ich muß es einfach seinlassen. Ich habe alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.
    Ich lockere das Klebeband und hebe den Hörer ab.
    »Smilla . . .«
    Die Stimme ist langsam, fast abwesend. Zugleich aber golden und klangvoll wie in einem Reklamefilm. Ich habe sie noch nie gehört. Meine Nackenhaare sträuben sich. Ich weiß, daß sie einem Menschen gehört, der noch vor ein

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