Peter Hoeg
paar Augenblicken weniger als einen Meter von mir entfernt gestanden hat. Ich weiß es mit Sicherheit.
»Smilla . . . Ich weiß, daß du da bist.«
Ich höre seinen Atem. Tief, ruhig.
»Smilla . . .«
Ich lege den Hörer hin, aber nicht auf die Gabel, sondern auf den Tisch. Ich muß beide Hände nehmen, um ihn nicht fallen zu lassen. Ich werfe mir meine Tasche über die Schulter. Nehme mir nicht die Zeit, die Schuhe zu wechseln. Ich stürze einfach zur Tür hinaus, die dunkle Treppe hinunter, zur Eingangstür hinaus und die Strandgade entlang, über die Brücke und durch die Havnegade. Wir können uns nicht unser ganzes Leben lang jede Sekunde beherrschen. Für jeden von uns kommt ein Augenblick, an dem uns die Panik übermannt.
Lander wartet mit laufendem Motor. Ich werfe mich auf den Beifahrersitz und drücke mich heftig an ihn.
»Das ist ja vielversprechend«, sagt er.
Allmählich kriege ich den Atem auf ein annehmbares Tempo.
»Das war eine reine Ausnahmesympathiebekundung«, sage ich. »Laß sie dir nicht zu Kopf steigen.«
Ich lasse ihn bis ganz an das Haus heranfahren. Jedenfalls für heute nacht habe ich die Lust verloren, im Dunkeln allein zu sein. Und ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Moritz selbst macht die Tür auf. Im weißen Frotteebademantel, weißen Seidenshorts, mit zerwühlten Haaren und verschlafenen Augen. Er sieht mich an. Er sieht Lander an, der meine Tasche trägt. Er schaut auf den Jaguar. In seinem halb schlafenden Hirn wandern und streiten Verwunderung, Eifersucht, alte Wut, Jähzorn, Neugierde und salbungsvolle Empörung. Dann reibt er sich über die Bartstoppeln.
»Willst du reinkommen?« sagt er. »Oder soll ich dir das Geld durch den Briefschlitz reichen?«
5
Die Rippen sind die geschlossenen Ellipsenbögen der Planeten, ihren Brennpunkt haben sie im Sternum, dem Brustbein, dem weißen Zentrum der Fotografie. Die Lungenflügel sind die gräulichen Schatten der Milchstraße vor dem schwarzen Bleischirm des Himmelsraumes. Die dunkle Kontur des Herzens ist die Aschenwolke der ausgebrannten Sonne. Die nebligen Hyperbeln der Eingeweide sind die losgerissenen Asteroiden, die Vagabunden des Raumes, der zufällige kosmische Staub.
Wir stehen in Moritz' Sprechzimmer vor dem Lichtschirm, an dem drei Röntgenbilder aufgehängt sind. In der technischen Reduktion der Photonfotografie wird deutlicher denn je zuvor, daß der Mensch ein Universum ist, ein von einer anderen Galaxie aus gesehenes Sonnensystem. Und doch, dieser Mensch ist tot. Im Permafrost von Holsteinsborg hat ihm jemand mit einem Preßluftbohrer ein Grab gegraben, Steine darauf gelegt und Zement darüber gegossen, um die Polarfüchse abzuhalten.
»Marius Høeg, gestorben an Botulismus. Auf dem Barrengletscher, Gela Alta, August 1991.«
Moritz, der Gerichtsmediziner Lagermann und ich stehen vor dem Schirm. In einem Korbsessel sitzt Benja und lutscht am Daumen.
Der Fußboden ist aus gelbem Marmor, die Wände sind mit einem hellbraunen Gewebe verkleidet. Der Raum hat Korbmöbel und eine Untersuchungsliege in lackiertem Avocadogrün mit einem Bezug aus Ochsenleder in Naturfarbe. An der Wand hängt ein Original von Dali. Selbst der Röntgenapparat sieht aus, als fühle er sich in diesem Versuch, die Spitzentechnologie gemütlich zu machen, wohl.
Hier verdient Moritz normalerweise einen Teil des Geldes, das dazu beiträgt, den Spätnachmittag seines Lebens zu vergolden, im Moment aber arbeitet er gratis. Er betrachtet die Röntgenaufnahmen, die Lagermann gesetzwidrig unter Übertretung von sechs Paragraphen aus dem Archiv des Gerichtsmedizinischen Instituts hergebracht hat.
»Von der Expedition 1966 fehlt der Bericht. Einfach herausgenommen worden. Verdammt noch mal.«
Ich habe Moritz erzählt, daß man nach mir fahndet und ich nicht im Sinn habe, mich an die Polizei zu wenden. Er verabscheut Gesetzwidrigkeiten, doch er senkt den Kopf und fügt sich, denn mit oder ohne Einverständnis der Polizei ist es immer noch besser, daß ich hier bin und nicht weg.
Ich habe ihm erzählt, daß ich Besuch von einem Bekannten bekomme und wir seine Lichttafel in der Klinik brauchen. Seine Klinik ist sein Allerheiligstes, auf einer Ebene mit seinen Investitionen und seinen Konten in der Schweiz, doch er fügt sich.
Ich habe gesagt, daß ich nicht darüber reden will, worum es sich bei der Sache handelt. Er senkt den Kopf und fügt sich. Er versucht, seine Schuld bei mir abzutragen. Sie ist dreißig Jahre alt und
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