Peter Hoeg
bodenlos.
Jetzt, als Lagermann gekommen ist, ausgepackt und die Bilder mit kleinen Klammern festgeklemmt hat, geht die Tür doch auf, und Moritz kommt gekrümmt herein.
So, wie er da vor uns steht, ist er drei Menschen in einem.
Er ist mein Vater, der meine Mutter noch immer liebt, und vielleicht auch mich, und er ist krank vor Sorge, die er nicht beherrschen kann.
Er ist der große Arzt und Dr. med. und der internationale Injektionsstar, den man nie außen vor gehalten und der immer vor allen anderen Bescheid gewußt hat.«
Und er ist der kleine Junge, den man vor die Tür gesetzt hat, hinter der etwas vor sich geht, an dem er brennend gern teilhaben möchte.
Diese letzte Person lasse ich, einem plötzlichen Einfall nachgebend, eintreten und stelle sie Lagermann vor.
Natürlich kennt er meinen Vater, schüttelt ihm die Hand und lächelt ihn breit an, er hat ihn bereits zwei- oder dreimal gesehen. Ich hätte voraussehen sollen, was jetzt passiert: daß Lagermann ihn vor den Schirm zieht.
»Schauen Sie mal«, sagt er, »hier ist verdammt noch mal etwas, was Sie wundern wird.«
Die Tür geht auf, und Benja trödelt herein. Mit ihren Wollsocken, ihren nach außen gedrehten Primadonnenfüßen und ihrem Anspruch auf unbegrenzte Aufmerksamkeit.
Die transparente Sternenkarte auf dem Schirm hat die beiden Männer absorbiert. Sie reden und erklären mir. Wenden sich aber aneinander.
»In Grönland gibt es nur wenige gefährliche Bakterien.«
Lagermann weiß nicht, daß Moritz und ich mehr über Grönland vergessen haben, als er jemals lernen wird. Aber wir unterbrechen ihn nicht.
»Es ist zu kalt dort. Und zu trocken. Deshalb ist eine Lebensmittelvergiftung äußerst selten. Mit einer Ausnahme. Botulismus, anaerobe Bakterien, die eine äußerst gefährliche Form von Fleischvergiftung hervorrufen.«
»Ich bin Laktovegetarierin«, wirft Benja ein.
»Der Bericht liegt in Godthåb, mit Kopie in Kopenhagen. Darin heißt es, daß sie am selben Tag, dem 7. August 1991, fünf Leute gefunden haben. Gesunde, junge Menschen. Botulismus, Clostridium botulinum ist anaerob , so wie Tetanus , das Starrkrampfbakterium. An sich ungefährlich. Aber seine Abfallstoffe sind teuflisch giftig. Greifen das periphere Nervensystem an, wo die Nerven in die Muskelfasern eintreten. Lähmen die Atemwege. Kurz bevor der Tod eintritt, wird es natürlich spektakulär. Hypoventilation, verdammt starke Azidose . Das Gesicht wird gasblau. Doch wenn es erst mal vorbei ist, keine Spur. Natürlich sind die Livores ein bißchen dunkler, aber das sind sie verdammt noch mal auch beim Herzanfall.«
»Von außen ist also nichts zu sehen?« frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
»Nichts. Botulismus ist eine Exklusionsanalyse. Ein Verdacht, zu dem man gelangt, weil man keine anderen Todesursachen findet. Dann entnimmt man eine Blutprobe. Proben der Lebensmittel, die unter Verdacht stehen. Die schickt man an das Seruminstitut. Das Königin-Ingrid-Krankenhaus in Godthåb hat selbstverständlich ein medizinisches Laboratorium. Doch keine Möglichkeiten, um die selteneren Giftstoffe aufzuspüren. Man hat also Blutproben nach Kopenhagen geschickt. In den Proben war Toxin von Botulinum .«
Er holt eines von seinen großen Zigarrenstreichhölzern heraus. Die Augenbrauen von Moritz runzeln sich bedrohlich. In der Klinik zu rauchen ist bei Todesstrafe verboten. Raucher werden in den Rauchersalon verwiesen, das ist ein Spaziergang im Garten. Selbst dort sieht er es nicht gern. Er meint, der Anblick des Rauchens könne selbst aus der Entfernung das Gleichgewicht seiner Schläge stören. Einer seiner wenigen großen wundersamen Siege über meine Mutter war, daß er sie in Qaanaaq dazu brachte, zum Rauchen hinauszugehen. Und eine seiner vielen Niederlagen war, daß sie in Siorapaluk im Sommerzelt rauchte. Mit dem ungeschwefelten Ende des Streichholzes zeigt Lagermann auf eine Reihe mikroskopischer Zahlen an der Unterkante der Fotografie.
»Röntgen kostet ein Schweinegeld. Wir machen es nur, wenn wir nach Eisenwaren suchen, die man in die Leute gebohrt hat. 1991 hat man keine Platten gemacht. Man hat es nicht für notwendig gehalten.«
Aus seiner Brusttasche nimmt er eine Zigarre in Zellophan.
»Hier drin darf man nicht rauchen«, sagt Benja.
Er betrachtet sie zerstreut. Dann klopft er mit der Zigarre sanft an die Fotografie.
»Aber 1966, da mußten sie Bilder machen. Da war die Identifikation nicht eindeutig. Sie waren durch die Explosion ja stark verstümmelt.
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