Peter Hoeg
mit einem einzigen Schnitt aufgeschlitzt worden, der, ohne das Futter zu berühren, die Wattierung geöffnet hat, aus der jetzt die Daunen herausgerissen werden und mich wie Schneeflocken umwirbeln. Ich ziehe die Jacke aus und lege sie zusammen. Auf dem Rückweg über Deck fällt mir ein, daß es kalt sein muß. Doch ich spüre die Kälte nicht.
5
Für die Handelsschiffahrt gibt es den staatlichen Dienst zur sozialen und kulturellen Betreuung von Seeleuten. Er schickt seinen Abonnenten immer neun Videofilme auf einmal. Sonne hat alles aufgebaut, um den ersten auf dem größeren Schirm im Fitneßraum zeigen zu können. Als ein Sonnenaufgang über einer Wüstenlandschaft aufblendet, stehle ich mich davon.
Auf dem zweiten Deck sind in zwei einander gegenüberliegenden Schrankreihen Werkzeug und Ersatzteile magaziniert. Ich nehme einen Kreuzschraubenzieher. Ich wühle planlos. In einer Holzkiste finde ich graue, leicht gefettete Lagerkugeln aus massivem Stahl, jede einzelne etwas größer als eine Golfkugel und in Ölpapier eingewickelt. Ich nehme eine davon.
Ich gehe die Treppe hoch auf das Achterdeck. Dort strahlt durch zwei lange Scheiben das Licht der Filmvorführung. Auf den Knien krieche ich zum Schott unter der Scheibe und schaue dann in den Raum hinein. Erst als ich Verlaines schwarz glänzende Haare und den Umriß von Jakkelsens Lockenkopf gefunden habe, gehe ich zum Korridor zurück. Ich schließe mich in Jakkelsens Kajüte ein.
Jetzt liegt im Bettkasten unter der Koje nur Bettzeug. Doch das Schachspiel ist immer noch an seinem Platz. Ich wickele die Schachtel in meinen Pullover. Dann horche ich einen Moment an der Tür und gehe zu meiner Kajüte zurück. Weit weg, aus unbestimmbarer Richtung, ist durch den Metallrumpf die Tonspur des Films zu ahnen.
Ich lege die Schachtel in eine Schublade. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, etwas zu besitzen, das, je nachdem, in welchem Hafen man es finden würde, seinem Besitzer von drei Jahren Gefängnis bis zur Todesstrafe alles einbringen könnte.
Ich ziehe den Trainingsanzug an. Die Metallkugel binde ich in ein langes, weißes Badehandtuch, das ich doppelt gelegt habe. Danach hänge ich es wieder an den Haken. Dann setze ich mich hin und warte.
Wenn man lange zu warten hat, muß man die Wartezeit in den Griff kriegen, um zu vermeiden, daß sie destruktiv wird. Wenn man den Dingen ihren Lauf läßt, schweift das Bewußtsein ab, Angst und Rastlosigkeit machen sich breit, und es meldet sich die Depression und zieht einen runter.
Um mich oben zu halten, frage ich mich, was ein Mensch ist, wer ich selbst bin.
Bin ich mein Name?
In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, reiste meine Mutter nach Westgrönland und brachte von dort den Frauennamen Millaaraq nach Hause. Weil er Moritz an das dänische Wort mild – das heißt ›sanft‹ – erinnerte, das in dem Wörterbuch der Liebesbeziehung zwischen ihm und meiner Mutter nicht vorkam, weil er alles Grönländische in etwas Europäisches und Bekanntes umwandeln wollte und ich ihn angeblich angelacht haben soll – mit dem grenzenlosen Zutrauen des Säuglings, der noch nicht weiß, was ihn erwartet –, einigten sie sich auf Smillaaraq , das auch das dänische Wort smil für ›Lächeln‹ enthielt und durch die Abnutzung, der die Zeit uns alle unterwirft, zu Smilla verkürzt wurde.
Was nur ein Laut ist. Doch wenn man hinter den Laut schaut, findet man den Körper mit seinem Kreislauf und seinen Flüssigkeitsbewegungen. Seine Freude am Eis, seinen Zorn, seine Sehnsucht, sein Wissen über den Raum, seine Gebrechlichkeit, Treulosigkeit und Loyalität. Hinter diesen Gefühlen entstehen und vergehen die unbenannten Kräfte, zerstückelte und zusammenhanglose Erinnerungsbilder, namenlose Laute. Und Geometrie. Tief in uns gibt es die Geometrie. Meine Lehrer an der Universität fragten immer wieder, was denn die Realität der geometrischen Begriffe sei. Wo gibt es, so fragten sie, einen vollendeten Kreis, eine wirkliche Symmetrie, eine absolute Parallelität, wenn sie sich in dieser unvollkommenen Außenwelt nicht konstruieren läßt?
Ich antwortete ihnen nicht, denn sie hätten die Selbstverständlichkeit der Antwort und ihre unabsehbaren Konsequenzen nicht verstanden. Die Geometrie ist ein angeborenes Phänomen in unserem Bewußtsein. In der Außenwelt wird es nie einen vollendeten Schneekristall geben. Doch in unserem Bewußtsein liegt das glitzernde und makellose Wissen vom perfekten Eis verankert.
Wenn man die Kraft
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