Peter Hoeg
eine leise Furcht aus. Er schüttelt den Kopf. Ich sollte eigentlich essen, aber mir ist der Appetit vergangen. Als ich an diesem Nachmittag nach dem Essen wieder in die Wäscherei arbeiten gehe, habe ich zwei dünne Streifen Tesafilm an meine Tür geklebt. Als ich vor dem Abendessen zurückkomme, sind sie zerrissen. Seitdem habe ich den Schraubenzieher nicht mehr weggelegt. Das ist möglicherweise keine rationale Reaktion. Aber Menschen machen sich mit so vielen merkwürdigen Gegenständen Mut, und ein Kreuzschraubenzieher ist nicht schlimmer als vieles andere.
Aus dem Sack quellen Männersachen auf den Boden. Netzunterhemden, Hemden, Strümpfe, Jeans, Unterhosen, ein Paar Hosen aus schwerem Drillich.
Vor mir liegt der erste Wäschehaufen, den ich von dem für uns gesperrten Bootsdeck bekommen habe. Ein bißchen Damenwäsche. Eine Strickjacke, Strümpfe, ein Baumwollrock, Handtücher Marke ›Jütische Damastwebereien‹ aus zentimeterdickem Frottee und mit dem eingewebten Namen Katja Claussen. Mehr hat sie nicht geschickt. Ich verstehe sie gut. Als Frau hat man es nicht so gern, wenn andere die schmutzige Wäsche sehen und in die Hand nehmen. Wenn ich in der Wäscherei nicht allein wäre, würde ich im Waschbecken waschen und die Sachen über einer Stuhllehne trocknen lassen.
Dann kommt noch ein Haufen Männersachen. T-Shirts, Hemden, Sweatshirts, Leinenhosen. Dazu sind drei Dinge anzumerken. Daß alles neu, teuer und Größe 46 ist.
»Jaspersen.«
Die kleinen schwarzen Kunststofftelefone, die auf der Kronos in jedem Raum zu finden sind, sich nur von der Brücke aus aktivieren lassen und es dem Wachhabenden erlauben, sich, wann immer er Lust hat, einzuschalten und Befehle zu erteilen, sind für mich – jedenfalls in diesem Augenblick – der Inbegriff dessen, was aus der genialen, kleinlich terroristischen, cleveren und abnorm überflüssigen technologischen Entwicklung der letzten vierzig Jahre herausgekommen ist.
»Würden Sie bitte den Kaffee auf die Brücke bringen.«
Ich lasse mich nicht gern überwachen. Ich hasse Stempelkarten und Gleitzeit. Auf vernetzte Register reagiere ich allergisch. Ich verabscheue Paßkontrollen und Geburtsscheine, Schulpflicht, Auskunftspflicht, Versorgerpflicht, Ersatzpflicht, Schweigepflicht, dieses ganze schwammige Ungeheuer staatlicher Kontrollmaßnahmen und Forderungen, die einem auf den Kopf fallen, wenn man nach Dänemark kommt, und die ich im Alltag aus meinem Bewußtsein wische, die sich aber jederzeit wieder vor mir aufbauen und sich beispielsweise in einem kleinen schwarzen Telefon materialisieren können.
Ich hasse es um so mehr, weil ich weiß, daß es auch eine Art schwarzer Segen ist, daß der gesamte westliche Kontrolle, Archivierungs- und Katalogisierungswahnwitz auch als Hilfe gedacht ist. Als man in den dreißiger Jahren Ittussaarsuaq , die als Kind mit ihrem Stamm und ihrer Familie über Ellesmere Island nach Grönland in die Emigration gewandert war, in der die kanadischen Eskimos zum erstenmal seit siebenhundert Jahren mit den inuit von Nordgrönland in Berührung kamen, als man sie – eine Dame von vielleicht fünfundachtzig Jahren, die den gesamten modernen Kolonisierungsprozeß vom Steinzeitalter bis zum drahtlosen Radio mitgemacht hatte – fragte, wie denn das Leben jetzt im Verhältnis zu damals sei, sagte sie ohne Zögern: »Besser – die inuit sterben jetzt sehr viel seltener vor Hunger.«
Gefühle müssen klar fließen, um sich nicht zu verwirren. Man kann so weit kommen, daß man die Kolonisierung von Grönland mit reinem, unverfälschtem Haß haßt. Das Problem ist nur, daß sie – weshalb immer man sie auch verabscheut – unbestreitbar der materiellen Not des Lebens, das das härteste der Welt war, abgeholfen hat.
Es gibt keinen Antwortknopf. Ich lehne mich neben dem Lautsprecher an die Wand.
»Gerade eben«, sage ich, »habe ich gehofft, daß man mir eine Gelegenheit bieten würde, mein möglichstes zu tun.«
Auf dem Weg nach oben gehe ich an Deck. Die Kronos rollt in der langen Querdünung, dem Seegang eines fernen Sturms, der verschwunden ist und nur diese bewegliche, mattgraue und in Wasser gebundene Decke aus Energie zurückgelassen hat.
Doch der Wind kommt von vorn, ein kalter Wind. Ich atme ihn ein, öffne den Mund und lasse ihn eine Resonanz finden, eine tiefe, stehende Welle, wie wenn man auf einer leeren Flasche bläst.
Vom Landungsfahrzeug ist die Persenning entfernt worden. Verlaine arbeitet mit dem Rücken zu mir.
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