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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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den Freibord auf fünf Meter.
    Hinter mir steht jemand. Ich drehe mich um. Hansen füllt die Tür zur Metallwerkstatt ganz aus. Massiv, in großen Clogstiefeln. In der Hand hat er etwas, das wie ein kurzer Dolch aussieht.
    Er betrachtet mich mit der gemächlichen, brutalen Zufriedenheit, die das Gefühl der körperlichen Überlegenheit manchen Männern gibt.
    Er hebt das Messer. Führt die linke Hand zur Klinge und beginnt sie mit einem kleinen Lappen kreisend zu putzen. Auf der Klinge bleibt eine weiße, seifige Schicht zurück.
    »Wienerkalk. Man muß sie mit Wienerkalk polieren. Sonst hält der Schliff nicht.«
    Er sieht das Messer nicht an. Sein Blick läßt mich nicht los, während er spricht.
    »Ich mache sie selber. Aus alten Kaltsägen. Der härteste Stahl der Welt. Erst wird die Schneide mit einem Diamantschleifer zugeschliffen. Danach putze ich mit Karborundum und Ölstein. Zum Schluß poliere ich dann mit Wienerkalk nach. Sehr, sehr scharf.«
    »Wie Rasierklingen?«
    »Schärfer«, sagt er zufrieden.
    »Spitzer als ein Nagelreiniger?«
    »Viel spitzer.«
    »Wieso«, sage ich, »bist du dann ewig unrasiert und tauchst in der Kombüse, die ich saubergemacht habe, mit so unverschämt dreckigen Nägeln auf?«
    Er schaut zur Kommandobrücke hinauf und sieht mich danach wieder an. Er leckt sich die Lippen. Findet aber keine Antwort.
    Wiederholt sich die Geschichte nicht? Hat Europa nicht immer versucht, seine Kloaken in den Kolonien auszuleeren? Ist die Kronos nicht das Ganze noch einmal, Sträflinge auf dem Weg nach Australien, die Fremdenlegion auf dem Weg nach Korea, britische Kommandosoldaten auf dem Weg nach Indonesien? Zurück in meiner Kajüte, ziehe ich die beiden zusammengerollten A4-Seiten, die ich in der Jackentasche gehabt habe, heraus. Ich lasse nichts Wichtiges mehr in der Kajüte liegen. Solange ich die Abmessungen, die ich abgeschritten habe, noch im Gedächtnis habe, trage ich sie in die Zeichnung ein, die ich vom Rumpf der Kronos anfertige. An den Rand schreibe ich die übrigen Angaben, die ich halb weiß, halb rate.
     
    Länge über alles: 105 Meter
Länge zwischen den Loten: 97 Meter
Breite: 15 Meter
Oberdecktiefe: 9,5 Meter
Tiefe des zweiten Decks: 6 Meter
Ladekapazität (zweites Deck): 100.000 Kubikfuß
Ladekapazität (Rumpf): 125.000 Kubikfuß
Insgesamt: 225.000 Kubikfuß
Geschwindigkeit: 18 Knoten, entspricht 4.500 PS
Ölverbrauch: 14 Tonnen pro Tag
Aktionsradius: 100.00 nautische Meilen
     
    Ich suche nach einer Erklärung für die Einschränkungen, denen die Bewegungsfreiheit der Mannschaft auf der Kronos unterworfen ist. Als der Eskimo Hans mit Peary zum Nordpol fuhr, durften die Seeleute das Offiziersdeck nicht betreten. Das gehörte zum Drill und war ein Versuch, das Aufgehobensein in der feudalen Hierarchie in die Arktis mitzunehmen. Heute ist die Besatzung auf einem Schiff zu klein für diese Art Regeln. Und doch gibt es sie auf der Kronos.
     
    Ich schalte die Waschmaschinen ein. Danach verlasse ich die Wäscherei.
    Wenn man Teil einer isolierten Gruppe von Menschen ist – in einem Internat, auf dem Inlandeis, auf einem Schiff –, weicht die Individualität auf und wird teilweise durch das Gefühl ersetzt, daß man Teil eines Ganzen ist. Unbewußt kann ich jederzeit jeden anderen im Schiffsuniversum einordnen. Nach seinen Schritten im Korridor, den Atemzügen beim Schlafen hinter geschlossener Tür, nach dem Pfeifen, dem Arbeitsrhythmus, nach meinen Kenntnissen der Wacheinteilung.
    So wie sie wissen, wo ich bin. Das ist der Vorteil, wenn man in der Wäscherei arbeitet. Es klingt, als sei man da, auch wenn man nicht da ist.
     
    Urs ißt gerade. Er hat einen Klapptisch neben dem Herd heruntergeklappt, eine Decke aufgelegt, gedeckt und eine Kerze angezündet.
    »Fräulein Smilla, attendez-moi one minute.«
    In der Messe der Kronos herrscht eine babylonische Verwirrung aus Englisch, Französisch, Philippinisch, Dänisch und Deutsch. Urs treibt hilflos zwischen Brocken von Sprachen, die er nie gelernt hat. Ich habe Mitleid mit ihm. Ich höre, daß sich seine Muttersprache zersetzt.
    Er zieht mir einen Stuhl heran und stellt noch einen Teller auf den Tisch.
    Er ist ein Gesellschaftsesser. Er ißt, als wollte er die Menschen aller Länder um die Fleischtöpfe vereinen in dem optimistischen Wissen, daß wir über Krieg, Vergewaltigung, Sprachbarrieren, Temperamentsunterschiede und selbst über die nach Einführung der Selbstverwaltung in Nordgrönland immer noch behauptete dänische

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