Peter Hoeg
Darüber liegt ein Klarsichtfaksimile des Senders Julianehåb mit den Linien, Kreisen, Schraffierungen und tintenschwarzen Dreiecken, die über Eiskonzentrationen, Sichtverhältnisse und Eisberge Auskunft geben. Entlang der Küste ist eine Kurslinie abgesteckt, um Kap Thorvaldsen herum und von dort aus Nordnordwest. Die Linie endet oben beim Westland, irgendwo mitten im Meer.
»Das ist alles, was ich weiß.«
Er haßt sie deswegen. Weil sie ihn an einer Kinderleine halten wie einen Säugling.
»Aber das Westeis reicht bis südlich von Holsteinsborg hinunter. Und es ist nicht lustig. Bis irgendwo nördlich von Söndre Strömfjord. Bis dahin bringe ich sie und kein Stück weiter.«
Ich habe mich neben Jakkelsen gesetzt. Auf der anderen Seite des Tisches sitzen Fernanda und Maria. Sie haben sich ein für allemal gegen die sie umgebende Männerwelt zusammengetan. Sie sehen mich nicht. Als übten sie schon mal, wie es sein wird, wenn ich gleich nicht mehr existiere.
Jakkelsen stiert auf seinen Teller. Neben ihm auf dem Tisch liegt sein Schlüsselbund. Ich lege Messer und Gabel hin, recke mich, lege die rechte Hand auf seine Schlüssel, führe sie langsam über die Tischplatte und lasse sie in den Schoß fallen. Im Schutz der Tischkante lasse ich sie einzeln durch die Finger gleiten, bis ich den finde, der mit drei Ks und einer Sieben gekennzeichnet ist. Das ist der Systemschlüssel der Kronos, den ich auch habe. Darüber hinaus aber hat Jakkelsens Schlüssel noch ein H. Das Schiff ist in Hamburg überholt worden. H steht für Hauptschlüssel. Ich drehe ihn aus dem Schlüsselring. Danach lege ich die restlichen Schlüssel zurück und stehe auf. Jakkelsen hat sich nicht gerührt.
In meiner Kajüte ziehe ich mich warm an. Von dort aus gehe ich auf das Achterdeck.
Ich schlendere, die Hand an der Reling. Es soll aussehen wie ein Spaziergang.
Entfernungen mißt man in Nordgrönland in sinik , in ›Schlaf‹, das heißt nach der Zahl der Übernachtungen, die eine Reise dauert. Das ist keine eigentliche Entfernung, denn mit dem Wetter und der Jahreszeit kann sich die Zahl der sinik ändern. Das Wort ist auch kein Zeitbegriff. Ich bin mit meiner Mutter bei heraufziehendem Sturm in einem Rutsch von Force Bay nach Iita gereist, eine Strecke, auf der man zweimal hätte übernachten sollen.
Sinik sind keine Distanz und keine Anzahl von Tagen oder Stunden. Es ist ein räumliches und zeitliches Phänomen, ein raumzeitlicher Begriff, er beschreibt die Vereinigung aus Raum, Bewegung und Zeit, die für die Eskimos selbstverständlich ist, sich jedoch mit keiner europäischen Alltagssprache einfangen läßt.
Die europäische Distanz, das Pariser Urmeter, ist etwas anderes. Ein Begriff für Umformer, aus deren Sicht die erste und wichtigste Aufgabe darin besteht, die Welt umzumodeln. Für Ingenieure, Militärstrategen, Propheten. Und Kartenzeichner. Wie mich.
Das metrische System ist mir erst im Herbst 1983 bei dem Landvermesserkurs an der Dänischen Technischen Hochschule richtig in Fleisch und Blut übergegangen. Wir vermaßen den Dyrehave. Mit Topoliten, Meßband, Normalverteilung, Äquidistanz und stochastischen Variablen, bei Regenwetter und mit Bleistiftstummeln, die dauernd gespitzt werden mußten. Und durch Abschreiten. Wir hatten einen Lehrer, der immer wiederholte, das A und O der Landvermessung sei, daß der Geodät seine eigene Schrittlänge kenne.
Ich kannte meine eigenen Schritte in sinik . Wenn wir hinter dem Schlitten herliefen, weil der Himmel schwarz war vor sich aufstauenden Explosionen, wußte ich, daß sich der Zeitraum um uns um die Hälfte der sinik reduzierte, die galt, wenn wir uns über gleichmäßiges Neueis ziehen ließen. Bei Nebel verdoppelten, bei Schneesturm verzehnfachten sie sich.
Im Dyrehave übersetzte ich mir meine sinik in Meter. Seither weiß ich, egal ob ich schlafwandele oder auf einem Seil tanze, ob ich Stiefel und Steigeisen oder das enge Schwarze trage, das mich zum japanischen Fünfzentimetergang zwingt, immer ganz genau, welche Entfernung ich durchschreite, wenn ich einen Schritt mache.
Es ist kein Vergnügungsausflug, den ich auf dem Achterdeck mache. Ich vermesse die Kronos. Ich sehe auf das Wasser hinaus. Aber alle verfügbare Energie brauche ich, um mir die Maße zu merken. Ich schlendere an dem hinteren Mast mit den zwei Ladebäumen vorbei, fünfundzwanzig und einen halben Meter zum Achteraufbau. Zwölf Meter daran entlang. An der Reling beuge ich mich vor und schätze
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