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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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den ersten Schlitten gesetzt, und ich erinnere mich, daß ich das Gefühl habe, daß wir auf einem Silberdraht fahren, der zwischen mir und dem Haus in Qaanaaq gespannt ist. Eine Minute bevor der Giebel aus der Nacht hervortritt, weiß ich, daß er kommt.
    Vielleicht war es nicht das erstemal. Aber so erinnere ich mich daran. Vielleicht ist es falsch, wenn wir uns an die Durchbrüche zu unserem eigenen Wesen so erinnern, als würden sie in einzelnen, einzigartigen Augenblicken stattfinden. Vielleicht haben die Verliebtheit, die durchdringende Gewißheit, daß wir selbst einmal sterben müssen, und die Liebe zum Schnee in Wirklichkeit nichts Plötzliches, vielleicht sind sie immer schon dagewesen. Vielleicht kommen sie einem nie wirklich abhanden.
    Noch ein anderes Nebelbild, möglicherweise aus demselben Sommer. Ich bin nie viel mit dem Boot draußen gewesen. Ich kenne den Meeresboden nicht. Es bleibt ungewiß, weshalb sie mich mitgenommen haben. Doch ich weiß in jedem Augenblick, wo wir uns im Verhältnis zu den Landmarken befinden.
    Von da an nehmen sie mich fast jedesmal mit.
    Im Coldwater Laboratory des amerikanischen Militärs auf Bylot hatten sie Leute angestellt, die das Phänomen Ortssinn erforschen sollten. Dort habe ich dicke Bücher und lange Verzeichnisse von Aufsätzen gesehen, die beschreiben, daß richtungskonstante Winde um die Erde wehen, die den Eiskristallen einen bestimmten Winkel verleihen, an dem man selbst bei geringer Sicht die Himmelsrichtungen ablesen können soll. Daß weiter oben eine zweite, fast unmerkliche Brise bei Nebel der einen Gesichtshälfte eine bestimmte Kühlung verleiht. Daß das Bewußtsein unterschwellig selbst das normalerweise nicht spürbare Licht registriert. Es gibt eine Theorie, wonach das menschliche Gehirn in den arktischen Gebieten imstande sein soll, die kräftigen elektromagnetischen Turbulenzen des magnetischen Nordpols in der Nähe von Bucha Felix zu registrieren.
    Mündliche Vorträge über das Musikerlebnis.
    Mein einziger Bruder im Geiste ist Newton. Ich war tief bewegt, als man uns an der Universität die Stelle im ersten Buch der Pricipia Mathematica vorlegte, wo Newton einen Eimer voll Wasser ankippt und die schräge Wasserfläche als Argument dafür anführt, daß in der rotierenden Erde und um sie herum ebenso wie um die sich drehende Sonne und die tanzenden Fixsterne, die es unmöglich machen, im Dasein einen festen Ausgangspunkt, ein Inertialsystem und einen Haltepunkt zu finden, der absolute space , der Absolute Raum ist, das, was stillsteht, das, woran wir uns klammern können.
    Ich hätte Newton küssen mögen. Später verzweifelte ich über Ernst Machs Kritik an dem Eimerexperiment, die den Ausgangspunkt für Einsteins Arbeiten bildete. Damals war ich jünger und leichter zu bewegen. Heute weiß ich, daß diese Arbeiten nur gezeigt haben, daß Newtons Argumentation unzulänglich war. Jede theoretische Erklärung ist eine Reduzierung der Intuition. Niemand hat an meiner und Newtons Gewißheit vom Absoluten Raum rütteln können. Niemand findet mit der Nase in Einsteins Schriften den Heimweg von Qaanaaq.
     
    »Was meinen Sie denn, was da passiert ist?«
    Nichts ist so entwaffnend wie Hellhörigkeit.
    »Ich weiß es nicht«, sage ich.
    Das kommt der Wahrheit sehr nahe.
    »Was sollen wir Ihrer Meinung nach denn tun?«
    Hier, bei Tageslicht, wo der Schnee geschmolzen ist, das Leben über die Knippelsbrücke hin und her weitergeht und ein höflicher Mensch mit mir redet, wirken meine Einwände plötzlich fadenscheinig. Mir fällt keine Antwort ein.
    »Ich werde die Sache von Anfang bis Ende noch mal durchgehen und sie mir im Lichte dessen, was Sie mir erzählt haben, anschauen.«
    Wir steigen hinunter, und es ist ein doppelter Abstieg. Dort unten erwartet mich die Depression.
    »Ich habe um die Ecke geparkt«, sagt er.
    Und dann macht er seinen großen Fehler.
    »Ich würde vorschlagen, daß Sie, solange wir die Sache noch mal durchgehen, Ihre Beschwerde zurückziehen. Damit wir unsere Arbeit in Ruhe machen können. Und aus demselben Grund noch etwas: Falls sich die Zeitungen an Sie wenden, finde ich, sollten Sie es ablehnen, sich zu der Angelegenheit zu äußern. Also auch nicht erwähnen, was Sie mir erzählt haben. Verweisen Sie sie an die Polizei, sagen Sie, daß die den Fall noch bearbeitet.«
    Ich spüre, daß ich rot werde. Aber nicht aus Verlegenheit. Sondern vor Zorn.
    Ich bin nicht vollkommen. Schnee und Eis sind mir lieber als die Liebe. Es

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