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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Heimweg gehen wir durch den Fælledpark.
    »Wie alt ist der noch mal?« fragt er.
    »Vierzigtausendjahre.«
    »Dann stirbt er sicher bald.«
    »Sicher.«
    »Wenn du stirbst, Smilla, kriege ich dann deine Haut?«
    »In Ordnung«, sage ich.
    Wir gehen über die Triangelkreuzung. Es ist ein warmer Herbst, die Luft ist diesig.
    »Smilla, können wir nach Grönland fahren?«
    Ich sehe keinen Grund, Kindern die unumgänglichen Wahrheiten zu ersparen. Sie müssen schließlich als Erwachsene dasselbe aushalten können wie wir anderen.
    »Nein«, sage ich.
    »In Ordnung.«
    Ich habe ihm nie etwas versprochen. Ich kann ihm nichts versprechen. Kein Mensch kann einem anderen etwas versprechen.
    » Aber wir können was über Grönland lesen.«
    Er sagt ›wir‹ zum Vorlesen, er ist sich bewußt, daß er mit seiner Anwesenheit ebensoviel dazu beiträgt wie ich.
    »In welchem Buch?«
    »In Euklids Elementen . . .«
    Als ich zu Hause bin, ist es dunkel. Der Mechaniker bringt gerade sein Fahrrad in den Keller.
    Er ist sehr breit und bärenhaft, und wenn er richtig gerade gehen würde, wäre er imposant. Aber er hält den Kopf gesenkt, vielleicht um seine Größe zu entschuldigen, vielleicht um den Türrahmen dieser Welt auszuweichen.
    Er gefällt mir. Ich habe eine Schwäche für Verlierer. Für Invalide, Ausländer, den Klassendicken, alle, mit denen nie jemand tanzt. Für sie schlägt mein Herz. Vielleicht, weil ich immer gewußt habe, daß ich irgendwie immer eine von ihnen sein werde.
    Jesaja und der Mechaniker waren befreundet. Schon bevor Jesaja Dänisch gelernt hatte. Sie haben sicher nicht sehr viele Worte gebraucht. Der eine Handwerker hat den anderen erkannt. Zwei Männer, die irgendwie beide allein auf der Welt waren.
    Als er das Fahrrad hinunterschiebt, gehe ich mit. Mir ist wegen des Kellers ein Gedanke gekommen.
    Er hat einen Doppelraum als Werkstatt bekommen. Der Raum hat einen Zementboden, warme, trockene Luft und ein scharfes, gelbes elektrisches Licht. Der begrenzte Platz ist vollgestopft. An zwei Wänden ein Arbeitstisch. Fahrradräder und Schläuche an Haken. Eine Molkereikiste mit defekten Potentiometern. Eine Plastikschiene für Nägel und Schrauben. Ein Brett mit kleinen Isolierzangen für elektrische Arbeiten. Ein Bord mit Schraubenschlüsseln. Neun Quadratmeter Sperrholz mit Dingen, die aussehen, als sei hier das ganze Werkzeug der Welt versammelt. Lötkolben in Reih und Glied. Vier Regale mit Klempnerwaren, Malerdosen, ausrangierten Stereoanlagen, Steckschlüsseln, Schweißelektroden und der ganzen Serie elektrischer Metabo-Werkzeuge. An der Wand zwei große Flaschen für ein CO2-Schweißgerät und zwei kleine für einen Schneidbrenner. Außerdem eine zerlegte Waschmaschine. Eimer mit Mitteln gegen Hausschwamm. Fahrradrahmen. Eine Fußpumpe.
    Hier sind so viele Gegenstände beisammen, daß es aussieht, als warteten sie nur auf den kleinsten Vorwand, um sich in ein Chaos zu verwandeln. Mir persönlich kommt es vor, als bräuchte man mich nur in diesen Raum zu schicken, um das Licht anzumachen, allein das würde zu einem Durcheinander führen, in dem man hinterher nicht einmal mehr den Schalter fände. Tatsächlich aber wird alles an seinem Platz festgehalten, und zwar von dem alles einbeziehenden, funktionellen Ordnungssinn eines Menschen, der sichergehen will, daß er findet, was er braucht.
    Der Raum ist eine Doppelwelt. Oben der Arbeitstisch, das Werkzeug, der hohe Bürostuhl. Unter der Tischplatte wiederholt sich das Universum in halber Größe. Eine kleine Holzfaserplatte mit Laubsäge, Schraubenzieher, Stemmeisen. Ein kleiner Schemel. Eine Arbeitsplatte. Eine kleine Schraubzwinge. Eine Bierkiste. Eine Zigarrenkiste mit vielleicht dreißig Dosen Humbrol. Jesajas Sachen. Ich bin einmal hiergewesen, als sie gearbeitet haben. Der Mechaniker auf dem Stuhl, über eine Lupe in einer Halterung gebeugt, Jesaja auf dem Fußboden, in Unterhosen, der Welt abhanden gekommen. Es roch nach verbranntem Lötzinn und Epoxyhärter. Und noch etwas war in der Luft, etwas Stärkeres: die totale, selbstvergessene Konzentration. Ich stand vielleicht zehn Minuten still da. Sie schauten nicht ein einziges Mal auf.
    Jesaja war für den dänischen Winter nicht gerüstet. Nur gelegentlich nahm sich Juliane zusammen und zog ihn warm genug an. Als ich ihn ein halbes Jahr kannte, hatte er innerhalb von zwei Monaten seine vierte schwere Mittelohrentzündung. Als er aus dem Penicillinrausch wieder auftauchte, war er schwerhörig.

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