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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Seitdem saß ich vor ihm, wenn ich vorlas, damit er meine Mundbewegungen verfolgen konnte. In dem Mechaniker fand er einen Menschen, mit dem er anders als durch Sprache reden konnte. Seit einigen Tagen trage ich etwas in der Manteltasche mit mir herum, weil ich auf diese Begegnung gewartet habe. Jetzt zeige ich es ihm.
    »Was ist das hier?«
    Es ist der Saugnapf, den ich aus Jesajas Zimmer mitgenommen habe.
    »Ein Saugheber. Glaser benutzen so etwas, wenn sie große Glasstücke transportieren.«
    Ich nehme die Sachen aus der Bierkiste. Mehrere geschnitzte Holzstückchen. Eine Harpune, ein Beil. Ein Boot aus einer festen, irgendwie gesprenkelten Holzsorte, vielleicht Birne. Ein umiaq . Er ist außen glattgeschliffen und innen mit einem Hohleisen ausgehöhlt. Eine lange, mühselige, behutsam ausgeführte Arbeit. Dann ein Auto aus gebogenen und zusammengeleimten Aluminiumstreifen, die aus einer fast foliendünnen Platte ausgeschnitten worden sind. Farbige Rohglasstückchen, die man geschmolzen und über einer Glasflamme in die Länge gezogen hat. Mehrere Brillengestelle. Ein Walkman. Die Deckplatte ist verschwunden, aber er ist mit einer Plexiglasplatte und kleinen, angeschraubten Scharnieren kunstgerecht repariert worden. Er liegt in einem handgenähten Plastiketui. Das Ganze sieht aus wie ein Gemeinschaftsprojekt von einem Kind und einem Erwachsenen. Schließlich ein Stapel Kassetten.
    »Wo ist sein Messer?«
    Er zuckt die Achseln. Gleich darauf trottet er davon. Er ist der hundert Kilo schwere kleine Freund der ganzen Welt – und auch mit dem Hauswart ein Herz und eine Seele. Er hat einen Hauptschlüssel für die Keller und kann kommen und gehen, wie es ihm paßt.
    Ich nehme den kleinen Schemel und setze mich an die Tür. Von dort aus kann ich den ganzen Raum überblicken.
    Im Internat hatten wir jeder einen Schrank von dreißig mal fünfzig Zentimetern. Er hatte ein Schloß. Der Besitzer hatte einen Schlüssel dazu. Alle anderen knackten es mit einem Stahlkamm.
    Die Ansicht, daß Kinder offen sind, daß ihr inneres Wesen sozusagen pur aus ihnen heraussickert, ist weit verbreitet. Das ist falsch. Niemand hält sich bedeckter als ein Kind, niemand muß es so sehr sein. Als Antwort auf eine Welt, die dauernd mit dem Büchsenöffner ankommt, um nachzuschauen, was es in sich hat, und festzustellen, ob es nicht vielleicht gegen eine gängigere Konserve eingetauscht werden sollte. Das erste Bedürfnis, das sich im Internat entwickelte, war – abgesehen von dem permanenten, nie richtig gestillten Hunger – das Bedürfnis nach Ruhe. In einem Schlafsaal herrscht nie Ruhe. Deshalb verlagert sich das Bedürfnis. Es wird zu dem Bedürfnis nach einem Versteck, nach dem Geheimfach.
    Ich versuche mich in Jesajas Lage zu versetzen, mir vorzustellen, wo er überall hingekommen ist. Die Wohnung, den Block, den Kindergarten, den Stadtwall. Orte, die man nie gründlich würde absuchen können. Ich halte mich also an das Vorliegende.
    Ich sehe mir den Raum an. Sehr gründlich. Ohne etwas zu finden. Außer die Erinnerung an Jesaja. Dann rufe ich mir ins Gedächtnis, wie er die beiden Male ausgesehen hat, als ich hier unten war. Das ist lange her.
    Ich habe vielleicht eine halbe Stunde so dagesessen, als das Bild deutlicher wird. Vor einem halben Jahr ist das Gebäude auf Hausschwamm untersucht worden. Die Versicherungsgesellschaft kam mit einem Hund, der auf den Geruch trainiert war. Er fand zwei kleinere Myzellien, die abgeklopft wurden. Hinterher wurden die Stellen eingepinselt. Sie arbeiteten auch in diesem Raum. Sie öffneten die Mauer einen Meter über dem Fußboden. Sie haben sie wieder zugemauert, aber noch nicht, wie die übrige Wand, mit Mörtel verputzt. Unter dem Arbeitstisch, im Schatten, ist ein Quadrat aus sechs mal sechs Steinen.
    Trotzdem kann ich es fast nicht finden. Er muß gewartet haben, bis die Arbeiter fertig waren. Dann ist er, als der Mörtel noch feucht war, herangegangen und hat einen der Steine ganz leicht nach innen geschoben. Danach hat er einen Augenblick gewartet und ihn wieder zurückgezogen. Das hat er gemacht, bis der Mörtel trocken war. Ruhig und bedächtig, den ganzen Abend lang, ist er alle Viertelstunde in den Keller geschlendert, um den Stein einen Zentimeter zu verrücken. Denke ich mir. Man kriegt keine Messerklinge zwischen den Stein und den Mörtel. Doch als ich drücke, rutscht der Stein nach innen. Erst verstehe ich nicht, wie er ihn herausbekommen hat, weil man ihn nicht richtig greifen

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