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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Meeresoberfläche der Erde treibendes Eis, der Treibeisgürtel der Antarktis ist zwanzig Millionen Quadratkilometer groß, um Grönland und Kanada sind es zwischen acht und zehn Millionen Quadratkilometer.
    Trotzdem wollen sie das Eis besiegen. Sie wollen es durchfahren, Ölbohrinseln darauf bauen und Tafeleisberge vom Südpol zur Sahara bugsieren, um die Wüste fruchtbar zu machen.
    Alles Projekte, deren Zwischenrechnungen mich nicht interessieren. Die Kalkulation von Unmöglichkeiten ist Zeitverschwendung. Man kann versuchen, mit dem Eis zu leben. Aber man kann nicht gegen das Eis anleben oder es verändern und an Stelle des Eises leben.
    Irgendwie ist das Eis sehr deutlich: Es trägt seine Geschichte auf der Oberfläche. Die Staus, die Buckel, das durch Schmelzen und neues Zusammenfrieren gebildete Packeis. Die Mischung verschiedener Eisalter im Mosaikeis, die schwarzen Stücke von sikussaq , altem, in geschützten Fjorden gebildetem Eis, die sich mit der Zeit losgerissen haben und aufs Meer hinausgedrückt worden sind. Jetzt, in den letzten Sonnenstrahlen, fällt aus den Wolken, vor denen sich die Sonne geduckt hat, ein feiner Schleier aus qanik , langsam sinkendem Schnee.
    Von der weißen Fläche reicht ein Rohr bis in mein Herz. Wie eine Verlängerung des Salzwasserbaums im Inneren des Eises.
     
    Als ich aufwache, merke ich, daß ich geschlafen habe. Es muß Nacht sein. Die Kronos fährt immer noch. Die Bewegungen sagen mir, daß sich Lukas noch immer einen Weg durch das Neueis bahnen muß. Ich versuche die Schubladen des Medizinschranks aufzuziehen. Sie sind abgeschlossen. Ich wickele meinen Pullover um den Ellbogen und drücke eine Scheibe der Tür ein. Im Schrank sind Scheren, Péan-Klemmen, Pinzetten. Ein Otoskop, eine Flasche Äthanol, Jod, steril abgepackte chirurgische Nadeln. Ich suche mir zwei Einmalskalpelle aus Plastik und eine Rolle Leukoplast heraus. Ich lege die beiden schmalen, zerbrechlichen Kunststoffgriffe zusammen und umwickle sie mit dem Pflaster. Jetzt haben sie eine gewisse Bruchstärke.
    Ich habe keine Schritte gehört, die Tür geht einfach auf. Der Mechaniker kommt mit einem Tablett herein. Er ist müder und geduckter als das letztemal, als ich ihn gesehen habe. Sein Blick bleibt an der zerbrochenen Scheibe hängen. Ich drücke das Skalpell an den Schenkel. Ich schwitze an den Händen. Er sieht auf meine Hand hinunter, ich lege das Messer auf die Pritsche. Er stellt das Tablett ab.
    »U-Urs hat sich Mühe gegeben.«
    Ich habe das Gefühl, daß ich mich übergeben muß, wenn ich das Essen nur anschaue. Er geht zur Tür und macht sie zu. Ich rücke weiter weg. Die Selbstbeherrschung ist so zerbrechlich.
    Das Schlimmste ist nicht der Zorn. Das Schlimmste ist die Lust hinter dem Zorn. Mit einem Gefühl in seiner Reinheit kann man leben. Was mich wirklich erschreckt, ist das lauernde Bedürfnis, mich an ihm festkrallen zu wollen.
    »Du bist s-selbst auf Expeditionen gewesen, Smilla. Du w-weißt, daß ein Punkt kommt, wo man sie l-laufenlassen muß, wo man nicht mehr stoppen kann.«
    Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich ihn nicht kenne, daß wir uns nie geliebt haben. Andererseits hat es eine kalte, vornehme Konsequenz, daß er nichts bereut. Sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich ihn mit einem Tritt aus meinem Leben hinausbefördern. Im Augenblick aber ist er meine einzige zarte, unmögliche Chance.
    »Ich will dir etwas zeigen«, sage ich. Und dann erzähle ich ihm, was.
    Er lacht angestrengt.
    »Unmöglich, Smilla.«
    Ich mache die Tür auf, damit er geht. Bis jetzt haben wir geflüstert, jetzt gebe ich das Leisereden auf.
    »Jesaja«, sage ich. »Irgendwie bist du mit dabeigewesen. Irgendwie bist jetzt auch du hinter ihm auf dem Dach gewesen.«
    Seine Hände schließen sich um meine Oberarme, er hebt mich auf die Pritsche zurück.
    »Wie kannst du so s-sicher s-sein, Smilla?«
    Sein Stottern hat heftig zugenommen. In seinem Gesicht ist Furcht. Jetzt gibt es an Bord der Kronos vielleicht keinen einzigen Menschen mehr, der keine Angst hat.
    »Du h-haust nicht ab. Und du kommst hinterher m-mit zurück?«
    Fast muß ich lachen.
    »Wo sollte ich denn hingehen, Føjl?«
    Er lächelt nicht.
    »Lander hat gesagt, er hat dich auf dem Wasser gehen sehen.«
    Ich ziehe meine Strümpfe aus, zwischen Zehen und Mittelfuß sitzt ein Stück Pflaster. Es hält Jakkelsens Hauptschlüssel fest.
     
    Wir begegnen niemandem. Das Licht auf dem Achterdeck ist aus. Als ich uns aufschließe, spüren

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