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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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konsequenter Leblosigkeit.
    Dann fällt die Sonne hinter die Wolkendecke, wie angezündetes Benzin.
    Die Eisdecke hat sich letztes Jahr im Polarmeer gebildet. Von dort aus ist sie zwischen Svalbard und der grönländischen Ostküste hindurchgepreßt und unten um Kap Farvel herumgeführt worden, um dann die Westküste hinaufzutreiben.
    Sie ist in Schönheit entstanden. An einem Oktobertag ist die Temperatur in vier Stunden um dreißig Grad gesunken, das Meer ist still geworden wie ein Spiegel. Es wartet darauf, ein Schöpfungswunder aufführen zu können. Die Wolken und das Meer gleiten in einem Vorhang aus grauer, fetter Seide zusammen. Das Wasser wirkt dickflüssig und ganz leicht rötlich, wie ein Likör aus wilden Beeren. Ein blauer Nebel aus Frostrauch befreit sich aus der Wasseroberfläche und treibt über den Wasserspiegel. Danach erstarrt das Wasser. Aus dem dunklen Meer zieht die Kälte jetzt einen Rosengarten, einen aus Salzen und gefrorenen Wassertropfen gebildeten, weißen Teppich aus Eisblumen. Sie leben vielleicht vier Stunden, vielleicht zwei Tage.
    Zu dem Zeitpunkt sind die Eiskristalle um die Sechs aufgebaut. Um ein Hexagon, eine Bienenstockzelle aus erstarrtem Wasser, strecken sich sechs Arme nach sechs neuen Zellen aus, die sich – durch einen Farbfilter und stark vergrößert fotografiert – wiederum in neue Sechsecke teilen.
    Danach bildet sich das frazil -Eis, der Eisbrei, das Pfannkucheneis, dessen Platten zu Schollen gefrieren. Es scheidet das Salz aus, das Meerwasser gefriert von unten her. Das Eis bricht auf, Oberflächenstau, Niederschlag und Meeresfrost verleihen ihm eine hügelige Oberfläche. Irgendwann wird es in eine Drift gepreßt.
    Am weitesten weg ist hiku , das Festeis, der Kontinent aus gefrorenem Meer, an dem wir entlangfahren.
    Um die Kronos sind in dem Fjord, den die – bisher nur teilweise verstandenen und beschriebenen – örtlichen Strömungsverhältnisse geschaffen haben, überall hikuaq und puktaaq , Eisschollen. Die gefährlichsten sind die blauen und schwarzen Schollen aus reinem Schmelzwassereis, die schwer und tief liegen und aufgrund ihrer Klarheit die Farbe des sie umgebenden Wassers angenommen haben.
    Deutlicher sichtbar sind das weiße Gletschereis und das gräuliche, von Luftpartikeln gefärbte Meereseis.
    Die Oberfläche der Schollen ist eine verwüstete Landschaft aus ivuniq , aus von der Strömung und dem Zusammenstoß der Platten nach oben gepreßten Eisstaus, aus maniilaq , Eisbuckeln, und aus apuhiniq , dem Schnee, den der Wind zu harten Barrikaden komprimiert hat. Derselbe Wind, der die agiuppiniq über das Eis gezogen hat, die Schneefahnen, denen man mit dem Schlitten folgt, wenn sich der Nebel auf das Eis gelegt hat.
    So wie es aussieht, lassen Wetter, Meer und Eis die Kronos durch. Jetzt sitzt Lukas im Eisausguck, nun bugsiert er sein Schiff vorsichtig durch die Kanäle, sucht die killaq , die Waken, läßt den Steven dort, wo das Neueis weniger als dreißig Zentimeter dick ist, auflaufen, um es durch das Gewicht des Schiffes zu zerschmettern. Er kommt voran, weil die Strömung hier so ist, wie sie ist. Weil die Kronos dafür gebaut ist, weil er Erfahrung hat. Aber es geht nur knapp.
    Shackletons eisverstärktes Schiff Endurance wurde im Weddelmeer vom Packeis zermalmt. Die Titanic erlitt Schiffbruch. Und die Hans Hedtoft. Und die Proteus, als sie im zweiten internationalen Polarjahr der Expedition von Leutnant Greely zu Hilfe kommen sollte. Die Verluste in der Polarfahrt sind unzählig.
    Im Eis ist so viel Widerstand, daß es keinen Sinn hat, es besiegen zu wollen. Eben jetzt sehe ich, wie die Zusammenstöße die Schollenkanten zersplittert und sie zu zwanzig Meter hohen Absperrungen aufgestaut haben, unter denen die Schollen dreißig Meter tief ins Wasser hinunterragen. Um uns friert es. Jetzt, in diesem Augenblick, spüre ich, wie sich das Meer um uns schließen will, daß uns nur eine fast zufällige, vorübergehende Konstellation aus Wasser, Wind und Strömung weiterfahren läßt. Hundertzehn Meilen weiter nach Norden ist das Packeis eine Mauer, durch die nichts hindurchdringt. Nach Osten zu stehen die festgefrorenen Eisberge, die vom Gletscher von Jakobshavn abgebrochen sind; in einem einzigen Jahr hat er tausend Eisberge abgeworfen, zusammen über hundertvierzig Millionen Tonnen Eis, die wie eine erstarrte Bergkette fünfundsiebzig Seemeilen vor der Küste zwischen uns und dem Land stehen. Zu jeder Zeit gibt es auf einem Viertel der

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