Peter Hoeg
klingt, als sei er grönländischer Abstammung. Ich erkläre, daß ich ein Band auf ostgrönländisch habe, das ich nicht verstehe. Er fragt, warum ich nicht in das Grönländerhaus gehe.
»Ich will einen Experten. Es geht nicht nur darum zu verstehen, was gesagt wird, ich möchte auch den Sprecher identifizieren. Ich suche jemanden, der sich die Stimme anhören und mir sagen kann, der Sprecher hat Hennahaare, und als er fünf war, hat er einen Klaps gekriegt, als er auf dem Töpfchen saß, und seinen Vokalen nach zu urteilen klingt es, als sei das 1947 bei Akunnaaq passiert.«
Der Mann fängt an zu glucksen.
»Haben Sie Geld, gnädige Frau?«
»Sie vielleicht? Und übrigens bin ich keine Frau, sondern ein Fräulein.«
»Svajerbryggen. Das ist im Südhafen. Liegeplatz 126. Fragen Sie nach dem Kurator.«
Er gluckst immer noch, als er auflegt.
Ich nehme die S-Bahn zur Enghave-Station. Von dort aus werde ich laufen. Ich habe mir in der Bibliothek in der Torvegade die Karte angeschaut, das Bild des Labyrinths aus gewundenen Straßen habe ich im Kopf. Der S-Bahnhof ist kalt. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig steht ein Mann. Er starrt sehnsuchtsvoll nach dem Zug, der ihn fortbringen soll, zu den anderen. Er ist der letzte Mensch, den ich sehe.
Jetzt ist die Innenstadt ein Ameisenhaufen. Jetzt wimmeln die Menschen in die Kaufhäuser. Jetzt bereiten sie Theaterpremieren vor und stehen vor Hviids Weinstube Schlange.
Der Südhafen ist eine Geisterstadt. Der Himmel ist tief und grau. Die Luft, die man einatmet, schmeckt nach Kohlenrauch und Chemie.
Wer befürchtet, daß die Maschinen kurz vor der Machtübernahme stehen, sollte keinen Spaziergang im Südhafen machen. Hier ist der Schnee nicht geräumt. Die Bürgersteige sind unwegsam. Auf der schmalen, matschigen Fahrbahn kommen ab und zu übernatürlich große Lastwagen mit schwarzen Windschutzscheiben vorbei, hinter denen niemand zu sitzen scheint. Über einer Seifenfabrik hängt eine Decke aus grünem Rauch. Eine Cafeteria wirbt mit Bratkartoffeln. Hinter den Scheiben leuchten in einer verlassenen Küche an einsamen Friteusen rote und gelbe Signallampen. Über einem verschneiten Kohlenlager bewegt sich ein Kran auf seinen Schienen ruhelos und ohne Ziel hin und her. Aus den Ritzen geschlossener Garagentore dringen bläuliche Blitze, das Knistern von Elektroschweißern und das Klingeln des schwarzen Geldes, das hier verdient wird, aber keine einzige menschliche Stimme.
Dann öffnet sich die Straße zu einem Ansichtskartenmotiv, einem großen Hafenbecken, das von niedrigen, gelben Lagerhäusern eingefaßt ist. Das Wasser ist zugefroren, und während ich mich noch von dem Anblick erhole, bricht die Sonne niedrig, weißgelb und überraschend durch und läßt das Eis leuchten wie eine unterirdische elektrische Birne hinter Milchglas. Am Kai liegen kleine Fischerboote mit einem Rumpf, der so blau ist wie die Linie, wo Meer und Horizont zusammenstoßen. Am Außenkai des Beckens, draußen im Hafen, liegt ein großer Dreimaster. Das ist Svajerbryggen.
Am Liegeplatz 126 ist das Segelschiff. Auf dem Weg dorthin begegne ich keinem Menschen. Alle Maschinengeräusche sind hinter mir verschwunden. Alles ist still.
Am Kai hat man eine Latte mit einem weißen Briefkasten aufgestellt. Darüber hängt ein schwarzes Schild, das noch von weißem Plastik verhüllt ist.
Am Heckspiegel steht in vergoldeten Buchstaben, daß das Schiff Nordlicht heißt. Die Galionsfigur ist ein geschnitzter Mann, der eine Fackel trägt. Das Schiff hat einen schwarzen, blanken Rumpf von mindestens dreißig Meter Länge, Masten, die in den Himmel ragen und den Eindruck machen, als stünde man vor einer Kirche, und es verbreitet einen Duft aus Teer und Sägespänen. Jemand hat erst vor kurzem ein Vermögen dafür ausgegeben, es renovieren zu lassen.
Ich gehe auf einer Gangway mit dicken Kokosläufern und einem Geländer mit polierten Bronzeknäufen an Bord. Das gesamte Deck beanspruchen große, geschlossene Holzkisten mit der Aufschrift ›Vorsicht‹, Stapel aus Planken und Farbeimer. Das Tauwerk ist sorgfältig aufgerollt, das Holz hat von einem Dutzend Schichten teurem Schiffslack einen tiefen, dunkelbraunen Glanz. Die weiße Emaille schimmert wie Glas. Die Luft vibriert von Putzmitteln, Zweikomponentenepoxyd und Fugenmasse. Abgesehen von dieser Vibration wirkt das Schiff wie ausgestorben.
Zwischen den Kisten führt ein schmaler Pfad zu einer lackierten Doppeltür, die nicht abgeschlossen ist,
Weitere Kostenlose Bücher