Peter Hoeg
Eltern inuit . Sie sind nach Dänemark gekommen, nachdem Sie die grönländische Sprachgrundlage bereits vollständig erworben hatten, aber noch bevor Sie das instinktive Talent des Kindes zur perfekten Erlernung einer Fremdsprache verloren hatten. Sagen wir, Sie waren zwischen sieben und elf Jahre alt. Danach wird es schwerer. Sie zeigen Spuren verschiedener Soziolekte. Sie haben vielleicht in den vornehmen nördlichen Vororten gewohnt oder sind da zur Schule gegangen, in Gentofte oder Charlottenlund. Da ist auch etwas eigentlich Nordseeländisches. Und seltsamerweise auch eine spätere Andeutung von Westgrönländisch.«
Ich mache keinen Versuch, meine Bewunderung zu verbergen.
»Das ist richtig«, sage ich. »Im großen und ganzen ist das richtig.«
Er schmatzt zufrieden.
»Kann man hören, wo das Gespräch stattfindet?«
»Wissen Sie es wirklich nicht?«
Da ist es wieder. Das schroffe Selbstgefühl und der Triumph angesichts seines Wissens.
Er spult zurück. Er schaut den Recorder nicht an, während er ihn bedient. Er spielt mir vielleicht zehn Sekunden vor.
»Was hören Sie?«
»Ich höre nur die unverständliche Stimme.«
»Hinter der Stimme. Ein anderes Geräusch.«
Er spielt es noch einmal. Da höre ich es. Ein schwacher, ansteigender Motorenlärm, wie ein Generator, der angeworfen und danach wieder abgestellt wird.
»Eine Propellermaschine«, sagt er. »Eine große Propellermaschine.«
Er spult, spielt erneut vor. Ein Stück mit dem schwachen Klirren von Porzellan.
»Ein großer Raum. Mit niedriger Decke. Tische, die gedeckt werden. Eine Art Restaurant.«
Ich sehe ihm an, daß er die Antwort weiß. Aber er genießt es, sie ganz langsam aus dem Zylinder zu fischen.
»Im Hintergrund eine Stimme.«
Er spielt dieselbe Stelle mehrmals. Jetzt kann ich sie gerade eben hören.
»Eine Frau«, sage ich.
»Ein Mann, der wie eine Frau redet. Er schimpft. Auf dänisch und amerikanisch. Dänisch ist seine Muttersprache. Vermutlich weist er die Person, die den Tisch deckt, zurecht. Sicher der Inspektor des Restaurants.«
Ein letztes Mal überlege ich, ob er bloß rät. Doch ich weiß, daß er recht hat. Daß er ein abnorm genaues und geübtes Gehör und einen Sinn für Sprache haben muß.
Das Band läuft.
»Wieder eine Propellermaschine«, versuche ich.
Er schüttelt den Kopf.
»Ein Jet. Eine kleinere Jetmaschine. Ganz dicht nach der vorigen. Ein verkehrsreicher Flughafen.«
Er lehnt sich zurück.
»Wo auf der Welt kann ein ostgrönländischer Robbenfänger in einem Restaurant sitzen, in dem gerade die Tische gedeckt werden, und erzählen, und wo ein Däne auf amerikanisch schimpfen, während man im Hintergrund einen Flugplatz hört?«
Nun weiß ich es auch, aber ich überlasse es ihm, es auszusprechen. Kleine Kinder soll man lassen. Erwachsene kleine Kinder auch.
»Nur an einem Ort, Thule Air Base.«
Auf der Base heißt das Vergnügungsetablissement ›Northern Star‹. Ein Restaurant mit zwei Speisesälen und einem Konzertraum.
Er schaltet das Band wieder ein.
»Sehr bemerkenswert!«
Ich sage nichts.
»Die Musik . . . hinter der Stimme . . . die Spur der vorigen Aufnahme. Natürlich Pop. Eurythmics, There must be an angel . Aber die Trompete . . .«
Er blickt auf.
»Das Klavier, das hören Sie natürlich, ist ein Yamaha Grand.«
Ich höre nicht einmal, daß überhaupt ein Klavier dabei ist.
»Ein großer, schwerer, prunkender Ton. Ein etwas schwerfälliger Baß. Gerne eine Spur falsch. Wird nie ein Bösendorfer . . . Aber was mich wundert, das ist die Trompete.«
»Am Ende vom Band ist noch etwas von der Musik drauf«, sage ich.
Er läßt das Band vorlaufen. Als er drückt, sind wir in eine Stelle unmittelbar nach dem Anfang geraten.
»›Mr. P.C.‹«, sagt er. Dann wird sein Gesicht leer, selbstvergessen.
Er läßt das Band zu Ende laufen. Als er es anhält, ist er weit weg. Ich lasse ihm Zeit zurückzukommen. Er trocknet sich die Augen.
»Jazz«, sagt er still. »Meine Leidenschaft . . .«
Das war eine kurze Blöße. Im nächsten Augenblick kommt er wie ein Gockel zurück. Drei Viertel der Politiker und Beamten der grönländischen Selbstverwaltung gehören seiner Generation an. Sie waren die ersten Grönländer, die eine Universitätsausbildung erhielten. Einige haben überlebt und an sich festgehalten. Andere – wie der Kurator – sind mit ihrem zerbrechlichen und dabei abnorm aufgeblasenen Selbstgefühl echte intellektuelle Norddänen geworden.
»In Wirklichkeit kann
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