Peter Hoeg
man einen Musiker nur äußerst schwer am Klang erkennen. Wer läßt sich so identifizieren? Stan Getz, wenn er lateinamerikanisch spielt. Miles Davis an dem nackten, präzisen, vibratolosen Klang. Armstrong an der genauen Kristallisierung des New-Orleans-Jazz. Und dieser Musiker.« Er sieht mich erwartungsvoll und vorwurfsvoll an.
»Großer Jazz ist ein Synonym für das John-Coltrane-Quartett. McCoy Tyner Klavier, Jimmy Garrison Baß, Elvin Jones Schlagzeug. Und in den Zeiten, in denen Jones im Gefängnis saß: Roy Haynes. Nur diese vier. Außer bei vier Gelegenheiten. Den vier New Yorker Independent Club Concerts. Dort wurden sie durch Roy Louber auf der Trompete ergänzt. Er hat sein Gespür für europäische Harmonisierung und seinen psalmodierenden afrikanischen Nerv bei Coltrane persönlich gelernt.«
Darüber denken wir nun ein bißchen nach.
»Alkohol«, sagt er plötzlich, »hat noch nie etwas für die Musik getan. Cannabis, heißt es, soll vorzüglich sein. Aber Alkohol ist eine tickende Bombe unter dem Jazz.«
Wir hören der tickenden Bombe ein bißchen zu.
»Seit damals, seit 1964, arbeitet Louber daran, sich zu Tode saufen. Auf seinem Weg nach unten, menschlich und musikalisch, ist er an Skandinavien vorbeigekommen. Und hiergeblieben.«
Jetzt erinnere ich mich an die Konzertplakate mit dem Namen. An vereinzelte skandalträchtige Zeitungsüberschriften. Eine lautete ›Besoffene Jazzberühmtheit versucht Bus umzukippen‹
»Er muß in dem Restaurant gespielt haben. Es ist dieselbe Akustik. Leute im Hintergrund, die essen. Irgend jemand hat die Gelegenheit zu einem Raubmitschnitt benutzt.«
Er lächelt voller Verständnis für das Projekt.
»Damit hat man sich eine fast kostenlose Liveaufnahme verschafft. Mit einem kleinen Walkman kann man viel Geld sparen. Wenn man das Risiko eingeht.«
»Warum ist er nach Thule gekommen?«
»Wegen des Geldes, natürlich. Jazzmusiker müssen ständig tingeln gehen. Denken Sie nur daran, was das alles kostet . . .«
»Was was kostet?«
»Sich zu Tode zu saufen. Haben Sie je daran gedacht, was Sie sparen, weil Sie keine Alkoholikerin sind?«
»Nein«, sage ich.
»Fünftausend Kronen«, sagt er.
»Wie bitte?«
»Diese Sitzung kostet fünftausend Kronen. Und circa zehntausend, wenn Sie eine beglaubigte Transkription des Inhalts wollen.«
Auf seinem Gesicht liegt nicht die Andeutung eines Lächelns. Er ist bierernst.
»Kann ich eine Rechnung haben?«
»Dann muß ich die Mehrwertsteuer draufschlagen.«
»Tun Sie das«, sage ich, »tun Sie das ruhig.«
So gesehen, kann ich die Rechnung zu nichts gebrauchen. Aber ich will sie zu Hause an die Wand hängen. Als eine Erinnerung daran, wozu sich die berühmte grönländische Hilfsbereitschaft und die Gleichgültigkeit gegenüber Geld entwickeln kann.
Er schreibt auf der Maschine, auf einem A4-Bogen.
»Ich brauche mindestens eine Woche. Würden Sie mich bitte Anfang Januar anrufen, fünf oder sechs Tage nach Neujahr?«
Ich ziehe fünf neue unbefleckte Tausendkronenscheine aus einem Bündel. Er schließt die Augen und lauscht, während ich sie ihm hinzähle. Er hat jedenfalls eine noch brennendere Passion als den modalen Jazz, nämlich das wollüstige Knistern von Geldscheinen, die den Besitzer wechseln und ihn als Empfänger haben.
Als ich bereits stehe, finde ich, daß ich ihn doch noch fragen sollte.
»Wie lernt man das, so viel zu hören?«
Er strahlt wie eine Sonne.
»Ich bin von Haus aus Theologe. Ein Beruf, der eine einzigartige Möglichkeit bietet, Menschen zuzuhören.«
Der Talar ist eine fast totale Verkleidung, deshalb habe ich so lange gebraucht, um den Mann wiederzuerkennen. Obwohl es keine zehn Tage her ist, seit ich ihn Jesaja habe begraben sehen.
»Im übrigen springe ich ab und zu schon noch mal ein. Wenn viel zu tun ist. Aber in den letzten vierzig Jahren habe ich mich meist mit Sprachen befaßt. Mein Lehrer an der Universität war Louis Hjelmslev, Professor für vergleichende Sprachwissenschaft. Er hatte einen sicheren Überblick über vierzig bis fünfzig Sprachen. Und noch mal so viele gelernt und wieder vergessen. Damals war ich jung und genauso überrascht wie Sie. Als ich ihn fragte, wie er denn so viele Sprachen habe lernen können, antwortete er« – hier macht er einen Mann mit starkem Übergebiß nach –, »die ersten dreizehn bis vierzehn dauern lange. Danach geht's viel schneller.«
Er brüllt vor Lachen. Er ist blendender Laune. Er hat brilliert und damit Geld verdient.
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