Peter Hoeg
Mir fällt auf, daß er wohl der erste Grönländer ist, der mich gesiezt und von mir erwartet hat, daß ich dasselbe tue.
»Noch etwas«, sagt er. »Seit meinem zwölften Jahr bin ich völlig blind.«
Er genießt meine plötzliche Erstarrung.
»Ich bewege die Augen nach Ihrer Stimme. Aber ich sehe nichts. Unter bestimmten Bedingungen schärft die Blindheit das Gehör.«
Ich ergreife die ausgestreckte Hand. Ich sollte meine Klappe halten. Einen Blinden zu ärgern ist wirklich ziemlich daneben. Obendrein einen Landsmann. Doch für mich hat die pure, unverfälschte Habgier schon immer etwas Rätselhaftes und Provozierendes gehabt.
»Herr Kurator«, flüstere ich. »Sie sollten vorsichtig sein. In Ihrem Alter. Mit dem ganzen Geld in der Tasche. Von diesen Werten umgeben. Auf einem Schiff, das wie ein offener Banksafe lockt. Der Südhafen ist durch und durch kriminell. Sie wissen, daß diese Welt voller Menschen ist, die hemmungslos nach dem Besitz ihrer Mitmenschen trachten.«
Er versucht, seinen Adamsapfel zu schlucken.
»Auf Wiedersehen«, sage ich. »Wenn ich Sie wäre, würde ich die Tür verbarrikadieren, sobald ich weg bin.«
Die letzten goldenen Sonnenstrahlen haben sich auf die flachen Steine des Kais gelegt. In ein paar Minuten werden sie fort sein. Und eine rauhe, feuchte Kälte zurücklassen.
Es ist nirgends ein Mensch zu sehen. Mit einem Schlüssel schlitze ich die weiße Plastikhülle um das Schild auf, mache einen Riß, gerade lang genug, daß ich hineinsehen kann. Das Schild ist von einem Schildermaler gemalt worden. Schwarze Buchstaben auf weißem Grund. ›Hier richten die Universität Kopenhagen, das Polarzentrum und das Kulturministerium das ARKTISCHE MUSEUM ein‹. Dann folgt eine Liste der Fonds, die den Spaß bezahlen. Die Lektüre erspare ich mir. Langsam gehe ich den Kai hinunter. Arktisches Museum. Dort ist das Schiff für Jesaja gekauft worden. Ich ziehe die Rechnung des Kurators aus der tiefen Tasche. Sie ist formvollendet und noch ein weiteres Wunder in Anbetracht der Tatsache, daß er blind ist. Er hat sie unterschrieben. Seine Unterschrift ist unleserlich. Doch er hat sie auch abgestempelt. Den Stempel kann ich lesen.
Da steht ›Andreas Fine Licht. Dr. phil. Professor für eskimoische Sprachen und Kulturen‹.
Ich bleibe stehen, bis sich der Schock gelegt hat. Dann überlege ich, ob ich zurückgehen soll.
Schließlich gehe ich weiter. Das Band ist eine Kopie. Und wenn man jagt, kann es zuweilen nützlich sein, wenn man sich sichtbar macht, stehenbleibt und mit dem Gewehrkolben herumfuchtelt.
4
Ich komme einigermaßen pünktlich. Der kleine blaue Morris hält am Hans-Christian-Andersen-Boulevard, vor dem Tivoli.
Der Mechaniker sieht aus wie ein Mann, der gewartet und in der Wartezeit zu viele belastende Gedanken gedacht hat.
Ich setze mich neben ihn in den Wagen. Das Auto ist kalt. Er sieht mich nicht an. Der Schmerz steht ihm im Gesicht wie in einem offenen Buch. Zusammen blicken wir schweigend geradeaus. Ich bin nicht bei der Polizei. Ich habe keinen Grund, anderen Leuten Geständnisse zu entlocken.
»Der Baron«, sagt er schließlich, »hat sich erinnert . Er hat nicht vergessen.«
Ich habe selber das gleiche gedacht.
»M-manchmal sind drei Wochen vergangen, bis er wieder in den Keller kam. Als ich klein war und drei Wochen im Ferienlager gewesen war, hatte ich meine Eltern, als ich nach Hause kam, fast vergessen. Aber der Baron tat kleine Dinge. Wenn ich nach Hause komme und er draußen auf dem Platz spielt, hört er auf. Und läuft mir entgegen. Und geht nur ein kleines Stück neben mir her. Als wollte er einfach zeigen, daß wir uns kennen. Nur bis zur Tür. Da bleibt er stehen. Und nickt mir zu. Um zu zeigen, daß er mich nicht vergessen hat. Andere Kinder vergessen. Sie mögen alle und jeden und vergessen alle und jeden.«
Er beißt sich auf die Lippe. Ich habe nichts hinzuzufügen. Worte können an der Trauer relativ wenig ändern. Worte können an allem relativ wenig ändern. Aber was haben wir denn sonst schon?
»Wir gehen in die Konditorei«, sage ich.
Auf dem Weg durch die Stadt erzähle ich ihm nicht von meinem Besuch am Liegeplatz 126. Aber ich erzähle ihm von meinem Anruf aus einer Telefonzelle bei Benedicte Clahn.
›La Brioche d'Or‹ liegt in der Fußgängerzone, beim Amagertorv im ersten Stock, ein paar Häuser weiter als das Geschäft der Königlichen Porzellanfabrik.
Unten im Eingang hängen Fotografien der Füllhörner, die die
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