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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Post vom und ins Ausland. Briefe und Umschläge sahen genauso aus wie heute, waren aber aus schlechterem Papier. Wir schlitzten den Umschlag auf, lasen den Brief, stempelten Censorship darauf und klebten ihn mit Tesafilm wieder zu. Alle Fotografien und Zeichnungen mußten herausgenommen und vernichtet werden. Alle Briefe mit Klatsch über Nazis, die beim Wiederaufbau von Deutschland eine Position hatten, waren zu melden. Wenn da beispielsweise stand, ›denk mal, damals war er Sturmbannführer bei der SS, jetzt ist er Direktor‹, und so weiter. Das war ziemlich häufig. Vor allem aber suchten sie nach der Naziuntergrundorganisation Edelweiß . Verstehen Sie, die Deutschen hatten beim Rückzug große Teile ihrer Archive verbrannt. Die Alliierten brauchten dringend Informationen. Deshalb hatten sie uns wohl eingestellt. Wir waren sechshundert Dänen. Und das allein in Hamburg. Wenn ein Brief das Wort Edelweiß erwähnte, wenn er eine gepreßte Blume enthielt, wenn Buchstaben unterstrichen waren, die möglicherweise das Wort Edelweiß bilden konnten, mußte er gestempelt werden – wir hatten alle unseren persönlichen Gummistempel – und an den Tischsortierer weitergehen.«
    Wie durch Telepathie spielt der Pianist jetzt ›Lili Marleen‹. Im Marschrhythmus, so wie Marlene Dietrich eine der Strophen gesungen hat. Benedicte Clahn schließt die Augen. Ihre Stimmung hat gewechselt.
    »Dieses Lied«, sagt sie.
    Wir warten, bis es zu Ende ist. Es geht in ›Ich hab' noch einen Koffer in Berlin‹ über.
    »Der Hunger war das Schlimmste«, sagt sie. »Der Hunger und die Zerstörungen. Mit einer Art S-Bahn von Rahlstedt zur Hamburger Stadtmitte dauerte es zwanzig Minuten. Samstag nachmittag und am Sonntag hatten wir ja frei. Und in der Unteroffiziersuniform hatten wir Zugang zu den Offiziersmessen. Konnten Champagner, Kaviar, Chateaubriand und Eis bekommen. Etwa eine Viertelstunde vom Zentrum entfernt, um Wandsbek herum, fingen die Trümmer an. Sie können sich das nicht vorstellen. Trümmer, so weit das Auge reichte. Bis zum Horizont. Eine Ebene aus Ruinen. Und die Deutschen. Die hungerten. Sie gingen auf der Straße an dir vorbei, blaß, eingefallen, verhungert. Ich war sechs Monate da. Nie, nicht einmal, habe ich einen Deutschen in Eile gesehen.«
    Ihre Stimme ist tränenerstickt. Sie hat vergessen, wo sie ist. Sie packt mich hart am Arm.
    »Der Krieg ist gräßlich!«
    Sie schaut uns an, ihr fällt ein, daß wir die Streitkräfte repräsentieren, und einen kurzen Moment lang kollidieren in ihr verschiedene Bewußtseinsebenen. Dann kehrt sie fröhlich und sinnlich in die Gegenwart zurück. Sie lächelt den Mechaniker an.
    »Mein Leutnant fuhr nach Hause. Ich war bereit, ihm zu folgen. Doch eines Tages werde ich zu Ottini ins Büro gerufen. Er macht mir ein Angebot. Am nächsten Tag werde ich nach Blankenese versetzt. An die Elbe. Die Engländer hatten dort alle großen Villen übernommen. In einer davon arbeiteten wir. Wir waren vierzig Leute im Haus. Meist Engländer und Amerikaner. Zwanzig waren im oberen Stock damit beschäftigt, das Telefonnetz abzuhören. Unten waren wir mehrere getrennte Gruppen. Wir erfuhren natürlich nie, was die anderen machten. In Rahlstedt hatten wir zwar auch Schweigepflicht gehabt, aber dort redete man trotzdem miteinander. Man zeigte sich die lustigen Briefe. In Blankenese war das ganz anders. Dort lernte ich Johannes Loyen kennen. Anfangs waren wir nur zu dritt, ich und noch zwei andere. Ein englischer Mathematiker und ein belgischer Lehrer für choreographische Notationssysteme. Wir arbeiteten mit Kodebriefen und Telefongesprächen. Meist mit Briefen.«
    Sie lacht.
    »Ich glaube, daß sie uns am Anfang auf die Probe gestellt haben. Sie gaben uns Sachen, die nicht wichtig waren. Oft knackten wir zwei Briefe an einem Tag. In der Regel waren es Liebesbriefe. Ich kam im Juli nach Blankenese. Ab August änderte sich etwas. Die Briefe bekamen einen anderen Charakter, manchmal kamen mehrere, die von denselben Leuten geschrieben waren. Uns wurde ein neuer Zensor zugeteilt, ein Deutscher, der für Gehlen gearbeitet hatte. Ich verstand das nie. Also, daß die Amerikaner und Engländer Teile des deutschen Nachrichtenwesens übernahmen. Aber er war ein sanfter und freundlicher Mann. Man kann den Leuten so was nie richtig ansehen, oder? Es hieß ja auch immer, Himmler habe Geige gespielt. Holtzer hieß er. Irgendwie wußte er speziell etwas über die Sache, an der wir arbeiteten. Denn das begriff ich

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